Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
faltet sie, schließt die Augen und greift betend nach einem der Zettel. Er zieht das >Ja< und wartet geduldig ab, ob sein Gebet tatsächlich erhört werden wird. In dem Moment, als er dies schreibt - Mai 1854 - ist die Genesung noch nicht so weit vorangeschritten, sehr zu seinem Verdruß, denn gerade in dieser Zeit wird die Dünenwasserleitung nach Amsterdam angelegt, und die »drei mächtigen Dampfgefährte Leegwater, Cruquius und Leynde« haben den Haarlemersee entwässert. Er hätte das noch so gern mit eigenen Augen gesehen.
Van den Hull schließt 1854 seine Memoiren ab, und so bleiben die letzten vier Jahre seines Lebens wie die ersten vier unbeschrieben. In den Schlußzeilen öffnet er noch einmal sein Herz: er denkt noch immer an Lina, die 1844 Witwe geworden ist. Er bittet Gott auch noch stets um ihre Hand, auch wenn er daran zweifelt, jemals noch erhört zu werden, »da ich damals schon das Alter von 75 Jahren erreicht hatte und Sie, die meine Geschichte nicht kennen, es vielleicht lächerlich finden würden, sich in diesem Alter eine Gattin zu wünschen.«
Literatur
Die Witwe des letzten Nachfahren des von Van den Hull angenommenen Sohns schenkte dem Haarlemer Gemeindearchiv 1992 das Manuskript der Autobiographie. Mit einer Einleitung von Raymonde Padmos und ergänzt durch die Bibliographie und Genealogie von Willem van den Hull erschien der Text als Autobiografie (1778-1854) in der Reihe Egodocumenten, Hilversum 1996.
M.A. Conway & D.C. Rubin, »The structure of autobiographical memory«, A.F. Collins, S.E. Gathercole, M.A. Conway & P.E. Morris (Hrsg.), Theories of memory , Hove 1993,103-137.
J.M. Fitzgerald, »Autobiographical memory and conceptualizations of the seif«, M.A. Conway, D.C. Rubin, H. Spinnler & W.A. Wagenaar (Hrsg.), Theoretical perspectives on autobiographical memory, Dordrecht 1992, 99-114.
P. Fromholt &: S.F. Larsen, »Autobiographical memory and life-history narratives in aging and dementia (Alzheimer type)«, M.A. Conway, D.C. Rubin, H. Spinnler & W.A. Wagenaar (Hrsg.), Theoretical perspectives on autobiographical memory, Dordrecht 1992, 413-426.
F. Galton, »Psychometric experiments«, Brain, 2 (1879), 149- 162.
A. Jansari & A.J. Parkin, »Things that go to bump in your life: explaining the re-miniscence bump in autobiographical memory«, Psychology and Aging, 11 (1996), 85-91.
P.D. McCormack, »Autobiographical memory in the aged«, Canadian Journal of Psychology, 33 (1979), 118-124.
D.C. Rubin, T.A. Rahhal & L.W. Poon, »Things learned in early adulthood are re-membered best«, Memory and cognition, 26 (1998), 3-19.
D.C. Rubin & M.D. Schulkind, »The distribution of autobiographical memories across the lifespan«, Memory and Cognition, 25 (1997), 859-866.
H. Schuman & J. Scott, »Generations and collective memories«, American Socio-logical Review, 54 (1989), 359-381.
Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird
Ernst Jünger sitzt in seinem Arbeitszimmer. Es ist spät am Abend, schon fast Nacht. Er arbeitet an dem Manuskript von Das Sanduhrbuch, einer Studie über Zeit. Vor ihm auf dem Tisch steht ein antikes Stundenglas, ein Geschenk des betrauerten Klaus Valentinen im Zweiten Weltkrieg von Rußland verschlungen. Die Sanduhr ist in ein einfaches eisernes Flechtwerk gefaßt. Sie muß schon viel benutzt worden sein: in der Taille ist das Glas ganz matt. Jünger schaut zu, wie in der oberen Kugel eine trichterförmige Höhlung entsteht und auf dem Boden des Glases unter dem Schleierstrahl geräuschlos fallenden Sandes ein Kegel wächst. Ist es kein tröstlicher Gedanke, überlegt er, daß die Zeit zwar verrinnt, aber nicht aufhört? Denn was oben verschwindet, häuft sich unten wieder zu einem neuen Vorrat an. Jedes Umdrehen stellt das Reservoir verfügbarer Zeit wieder her - man braucht nur den Arm danach auszustrecken.
]ean-Marie Guyau (1854-1888)
Aber egal wie oft man diesem neuen Vorrat zusprechen kann, die Zeit verrinnt doch stets schneller. In Sanduhren scheuern sich die Körner gegenseitig immer glatter, bis sie schließlich fast reibungslos von einem ins andere Glas rinnen, wobei sie die Öffnung immer weiter ausschleifen. Je älter eine Sanduhr ist, desto schneller läuft sie. Unbemerkt zählt das Stundenglas fortwährend kürzere Stunden ab. In dieser chronometrischen Unvollkommenheit verbarg sich eine Metapher: »Auch dem Menschen fliegen ja in der Wiederholung die Jahre eiliger vorbei, bis endlich das Maß zerbricht. Auch er wird für die
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