Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
vor ihrer Geburt war. Die Antworten variierten ausgesprochen stark. Aber als Schuman und Scott die fünf meistgenannten Ereignisse nahmen - aufeinanderfolgend die Krise der zwanziger Jahre, der Zweite Weltkrieg, der Tod Kennedys, der Vietnamkrieg und die Entführungen und Geiseldramen der siebziger Jahre - und darunter das Alter der Menschen projizierten, die gerade dieses Ereignis nannten, fiel eine klare Regelmäßigkeit auf: was Menschen für ein >Ereignis von nationaler oder globaler Bedeutung< hielten, zeigte eine Spitze bei dem, was sie um ihr zwanzigstes Lebensjahr herum erlebt hatten. Für einen Fünfundsechzigjährigen (im Jahr 1985) war das der Zweite Weltkrieg, denn damals war er zwanzig; für einen Fünfundvierzigjährigen war das der Tod Kennedys. Scherzhaft ausgedrückt: Weltbewegend ist, was geschah, als ich zwanzig war.
Mit all diesem Zählen und Datieren ist zwar eine Verteilung über das Leben festgelegt, aber längst noch keine Erklärung. In der Literatur zirkulieren drei Theorien über den Reminiszenzeffekt. Denkbar ist zuallererst, daß das Gedächtnis in neurophysiologi-scher Hinsicht um das zwanzigste Lebensjahr herum in bester Verfassung ist. Das Aufnahmevermögen ist noch nahezu unbegrenzt. Was man erlebt, bleibt mühelos hängen. In dieser Zeit speichert man mehr Erinnerungen als später, daher wird ein halbes Jahrhundert später die Trefferquote für Erinnerungen aus diesem Zeitraum auch so viel höher sein. Diese Erklärung ist verführerisch, aber wahrscheinlich nicht richtig. Wäre die Qualität des
Gedächtnisses der wichtigste Faktor, müßte der Reminiszenzhöcker etwa zehn Jahre früher liegen, denn dann hat das Gedächtnis, wie Experimente bestätigen, die größte Klebkraft.
Eine zweite Erklärung könnte sein, daß man zwischen dem fünfzehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr einfach mehr erlebt, das des Behaltens wert ist. Unterstützung erhält diese Erklärung durch die Erkenntnis, daß die Aufforderung an die Versuchsperson, drei oder vier ihrer lebendigsten Erinnerungen zu erzählen, einen stärkeren Reminiszenzeffekt auslöst, als die Befragung mit Reizwörtern. Offensichtlich ist der Eindruck, den ein Ereignis gemacht hat, ein wichtiger Faktor. Eine Erklärung im Sinne von »Damals geschah mehr Denkwürdiges« lädt dazu ein, die ausgelösten Erinnerungen nicht nur zu datieren und mit Stri-ä chen zu zählen, sondern sie auch zu bestimmen. Um was für eine Art von Erinnerungen handelt es sich? Was haben sie gemein und warum kommen sie später nur gelegentlich vor? Forschung, die | sich auf diese Fragen richtet, ist seltener, aber durchaus vorhanden. Viele Erinnerungen im Reminiszenzhöcker, konstatierten Jansari und Parkin, haben mit >ersten Malern aller Arten zu tun. i Nicht nur das erste Mal, sondern auch der erste Kuß, die erste Monatsblutung, das erste Referat, die ersten Ferien ohne Eltern, I die erste Fahrstunde, der erste Tote, den man sah, der erste Arbeitstag - viele der Erinnerungen an die ersten Male behalten ei-I ne blitzlichtartige Klarheit. Natürlich gibt es auch später noch ab [ und zu erste Male - das erste graue Haar, die erste Hitzewallung i aber sie werden mit Fortschreiten der Jahre bestimmt spärlicher.
Es wird noch eine dritte Erklärung für den Reminiszenzeffekt suggeriert. In der Jugend und im frühen Erwachsenenalter treten die Ereignisse ein, die zur Persönlichkeit eines Menschen beitragen, seine Identität bestimmen, den Kurs des Lebens steuern. Zufällige Begegnungen, ein Buch, das viel Eindruck macht, ein eingehendes Gespräch, nach dem man plötzlich genau weiß, was man werden will - für diese Art von Ereignissen ist man in jenen Jahren am empfänglichsten. Dieser Effekt bewirkt, daß sich jemand, wenn er älter geworden ist, an Ereignisse erinnert, die ihn zu dem gemacht haben, was er heute ist. Die Übereinstimmung zwischen
dem heutigen Ich und den Erfahrungen, die dieses Ich geformt haben, leitet die Assoziationen vom Alter wie von selbst zur Jugend. Ältere Menschen, die zurückschauen, erinnern sich dieser Theorie zufolge an Episoden, die Teil der Geschichte ihres Lebens ausmachen. Umgekehrt definiert und demonstriert die Art und Weise, wie sie diese Geschichte erzählen, auch ihre eigene Identität. Dem Psychologen Fitzgerald zufolge ist den meisten dieser >Lebensgeschichten< gemein, daß der Erzähler versucht, ihnen eine mehr oder weniger kohärente Entwicklung zu geben. Im Alter sieht man auf das eigene Leben gern als
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