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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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grabwärts führt. Und so bin ich vielleicht Ursache gewesen, wenn nicht von ihrem frühen Tod, so doch des traurigen Leidens dieser oder jener jungen Tochter.« Mit seiner hoffnungslosen Liebe zu Lina hatte Gott ihm gegeben, was er verdiente, sie war die Rächerin, die Vergeltung für das Böse, das er Frauen angetan hatte. Daß er ihr Herz nicht erobern konnte, lag nicht an ihm, sondern an einer höheren Macht. Und nun fragt sich der Leser vielleicht, schreibt Van den Hull, ob Lina »wohl jemals solch eine Liebe für mich empfunden hat, wie ich unterstellte?« Aber so weit geht die neue Deutung nun auch wieder nicht: »Oh, daran zweifle niemand.«
    Van den Hull verliebte sich, als er fast 43 Jahre alt war. In seiner Autobiographie ist das eine Periode, in der die Anzahl Seiten, die er im Durchschnitt einem Jahr seines Lebens widmet, bereits auf weniger als sechs zurückgegangen ist. Zieht man die ungefähr 30 Seiten über seine Verliebtheit in Lina davon ab, bleiben im Durchschnitt noch etwa drei Seiten übrig, was mit der geringen Wiedergabe der Jahre zwischen mittlerem Alter und dem Schluß im Alter von 76 Jahren übereinstimmt. Anders gesagt: Seine Verliebtheit hat diese Jahre noch für kurze Zeit sich ausdehnen lassen, sie in seinem Gedächtnis breiter gemacht, als sie ohne Lina gewesen wären. Daß Van den Hull diese Jahre als schmerzlich lang erlebt hat, steht fest. Seine Verliebtheit begann an einem Samstag im August
    1821 und endete im April 1831, als er die Nachricht von ihrer Hochzeit entdeckte. Für den Kalender sind das noch keine zehn Jahre; für Van den Hull waren es, wie er ein paarmal schreibt, »elf lange Jahre«.
    Aber vielleicht sollte man sagen, daß diese Jahre niemals endeten. Er schreibt zwar, daß er nun langsam wieder etwas zur Ruhe kam, aber sie vergessen, schreibt er auch, konnte er nicht: »Dazu hat mein Herz einen zu gewaltigen Schock bekommen, und so oft ich ihrer in meiner Einsamkeit gedenke, fühle ich etwas Unbeschreibliches, etwas Krampfartiges, wie ein Überbleibsel dieses gewaltigen Schocks.«
    Erneut: der Reminiszenzeffekt
    Genau hundert Jahre nachdem Galton in Brain die Ergebnisse der Erforschung seines eigenen Gedächtnisses veröffentlichte, bediente sich McCormack dessen Technik für eine Studie des autobiographischen Gedächtnisses bei Alteren. Er legte Versuchspersonen im durchschnittlichen Alter von achtzig Jahren Wörter wie >Pferd<, >Fluß< und >König< vor, datierte die Erinnerungen, die diese auslösten, und stellte fest, daß die meisten Erinnerungen aus dem ersten und in etwas geringerem Umfang aus dem zweiten Viertel des Lebens stammten. Das dritte Viertel - für die meisten Versuchspersonen die Periode zwischen ihrem vierzigsten und sechzigsten Lebensjahr - bildete ein ausgeprägtes Tal. Dasselbe Muster wurde mit kleinen Variationen in unzähligen Studien angetroffen. Rubin und Schulkind kombinierten die Ergebnisse einer langen Reihe von Experimenten und stellten fest, daß dieser >bump< bei den Vierzigjährigen noch fehlt, bei den Fünfzigjährigen zögernd beginnt und bei den Sechzigjährigen deutlich sichtbar wird.
    Der Reminiszenzeffekt ist ein robustes Phänomen, er läßt sich selbst unter extremen pathologischen Umständen nicht ganz löschen. ln einem Experiment von Fromholt und Larsen bat man dreißig gesunde Ältere und dreißig Alzheimerpatienten - alle zwischen 71 und 89 Jahren alt -, eine Viertelstunde lang Erinnerungen an Ereignisse zu erzählen, die ihnen viel bedeutet hatten. Die Alzheimerpatienten erzählten weniger Erinnerungen als die gesunde Gruppe (acht zu 18), aber die Verteilung über das Leben wich nicht von der gesunder Versuchspersonen ab: auch die Alzheimerpatienten erzählten am meisten über ihre Jugendjahre.
    Der Reminiszenzeffekt ist auch in einer Untersuchung aus einer ganz anderen Ecke aufgetaucht. In einem Essay aus dem Jahre 1928 über »das Problem der Generationen« schrieb der Soziologe Karl Mannheim, daß die Erfahrungen, die man, grob geschätzt, zwischen 17 und 25 Jahren macht, für die Herausbildung einer politischen Generation bestimmend sind. Von diesem Gedanken angeregt, erstellten die Soziologen Schuman und Scott eine quantitative Studie zu den Unterschieden zwischen Generationen. Sie baten eine Zufallsauswahl von rund 1.400 Amerikanern ab 18 Jahren, ein oder zwei >Ereignisse von nationaler oder globaler Bedeutung< anzugeben. Sie brauchten dieses Ereignis nicht selbst miterlebt haben, sie durften auch etwas nennen, was

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