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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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ändern.« Augustine wurde mißhandelt und beschloß schließlich, ihren Mann zu verlassen. Mit dem dreijährigen Jean-Marie zog sie zu ihrem Cousin, dem Philosophen Alfred Fouillee.
    Den ersten Unterricht erhielt Jean-Marie von seiner Mutter. Später übernahm Fouillee diese Aufgabe. Er ließ Jean-Marie Platon und Kant lesen und setzte den Fünfzehnjährigen sogar zum Schreiben von Büchern über Platon und Sokrates ein. Mit 17, zu Beginn seiner universitären Studien, hatte Guyau bereits ein intellektuelles Leben hinter sich. 1874 erfolgte seine Ernennung zum Dozenten im Fach Philosophie am Pariser Lycee Condorcet. Im selben Jahr zeigten sich die ersten Symptome der Tuberkulose. Das ist der Anfang eines dieser seltsamen Leben des 19. Jahrhunderts, die durch die Aussicht auf ein vorzeitiges Ende komprimiert gelebt werden mußten. Guyau beschloß, seine Dozentenstelle aufzugeben und in einem milderen Klima Erleichterung zu suchen. Er ließ sich mit seiner Frau, seiner Mutter und Fouillee in der Provence nieder. 1884 bekamen die Guyaus einen Sohn, Augustin. Inmitten der Hügel und weit weg vom akademischen Getümmel, verbrachte Guyau produktive und glückliche Jahre. In dieser Periode schrieb er die wichtigsten Teile seines Buchs über Zeitgefühl.
    Die tragende Analogie in Guyaus Theorie über Zeit ist Raum -nicht der geometrische, sondern der der Perspektive, Raum, wie er sich dem Zuschauer zeigt. Zeiterleben ist eine Frage der >inneren Optik<. Das Gedächtnis ordnet unsere Erfahrungen in der Zeit, wie ein Maler den Raum durch Perspektive einteilt. Erinnerungen geben unserem Bewußtsein Tiefe. Sobald die Ordnung in unserem Gedächtnis entfällt, wie bei unbemerkten Übergängen zwischen Bildern in einem Traum, ist auch unser Gefühl für Dauer verschwunden. Guyau berichtet von einem Studenten, der plötzlich in einen lethargischen Schlaf gefallen und von seinen herbeieilenden Freunden schnell wieder geweckt worden war. In dieser kurzen Zeit hatte er von einer Reise durch Italien geträumt. Die fließende Aneinanderreihung der Bilder von Städten, Menschen, Denkmälern und seiner Erlebnisse während der Reise vermittelten ihm den Eindruck, er habe stundenlang geträumt.
    Guyau hat eine Handvoll Faktoren aufgeführt, die auf die innere Optik der psychologischen Zeit Einfluß haben. Dauer und Tempo hängen von der Intensität unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen ab, ihrem Wechsel, ihrer Anzahl, der Geschwindigkeit, mit der sie aufeinander folgen, der Aufmerksamkeit, mit der sie betrachtet werden, der Anstrengung, die es kostet, sie im Gedächtnis zu speichern und den Gefühlen oder Assoziationen, die sie bei uns auslösen. Aber dieselben Faktoren, die uns bei der Orientierung in der Zeit helfen, können auch Schätzungsfehler verursachen. Die Schärfe unserer Aufmerksamkeit zum Beispiel wirkt wie ein Fernglas: die Details, die dann sichtbar werden, vermitteln die Illusion, daß der Gegenstand ganz nah ist. Guyau machte für diesen Vergleich eine Anleihe bei dem englischen Psychologen Sully, der in seinem Buch Illusion (1881) angemerkt hatte, daß ein öffentliches Ereignis, das viel Aufruhr verursacht hat - eine Entführung, ein Mord -, als viel jüngeren Datums betrachtet wird, als mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Und wenn der Täter seine Strafe abgesessen hat, wird niemand glauben wollen, daß das Delikt schon vor so langer Zeit begangen worden ist.
    Auch bei unseren persönlichen Wahrnehmungen ist die Intensität ein Faktor in der Schätzung der Dauer. Wenn wir an ein Ereignis zurückdenken, das viel Eindruck auf uns gemacht hat, unterschätzen wir den zeitlichen Abstand, der uns von diesem Ereignis trennt. Solche Illusionen haben ihre Pendants in der Psychiatrie. Traumatische Ereignisse wiederholen sich in Flashbacks, Erinnerungen, die in das psychologische Heute eindringen und sich nicht willkürlich daraus entfernen lassen. Es ist, als würde sich eine solche Erinnerung mit der Zeit mitbewegen, schreibt Guyau, und wolle einfach nicht außer Sicht geraten. Stehen wir auf der Wengernalp, scheint es, als brauchten wir nur einen Stein durch die klare Luft zu werfen, um die Gletscher der Jungfrau zu treffen. Die wirklich tiefen Traumata scheinen immer nur einen Steinwurf vom Heute entfernt.
    Daß die Schärfe einer Vorstellung die Illusion von Nähe erzeugt, funktioniert in beide Zeitrichtungen. Wenn wir auf etwas warten, das wir sehr gern wollen, sehen wir das Ereignis in unserer Vorstellung schon so

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