Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
auf eine Geschichte zurück, in der Überraschungen und Wendungen nicht zu fehlen brauchen, die aber doch durch die charakteristischen Reaktionen einer stabilen Hauptperson zusammengehalten wird. Eine zweite Eigenschaft, die aus der ersten folgt, ist, daß wenn sich diese festen Muster einmal abgezeichnet haben, neue Episoden allmählich überflüssig werden. Vieles dessen, was neu scheint, ist bei näherer Betrachtung Routine, Wiederholung, das zigste Beispiel, und für eine gute Geschichte läßt man es besser weg. Eine von Fitzgeralds eigenen Studien unterstrich das Erzählende in der Erinnerung. Er bat dreißig ältere Menschen, fünf Geschichten über sich selbst zu erzählen, die sie ganz bestimmt aufnehmen würden, wenn sie ein Buch über ihr Leben schreiben sollten. Er erhielt auf diese Weise eine Sammlung von Erinnerungen, die ausgesprochen ungleichmäßig über das Leben verteilt waren, mit einem Reminiszenzeffekt, der eher Berg als Höcker war: aus den Jahren zwischen zehn und zwanzig wurde mehr erzählt als aus den Jahren zwischen fünfzig und achtzig zusammen.
Die Autobiographie von Van den Hull umfaßt achthundert Seiten Lebensgeschichte und eine Vielzahl von Erinnerungen. Das Material, das er aus seinem Gedächtnis zum Vorschein brachte, verteilte er genauso ungleichmäßig über die 74 Jahre seines beschriebenen Lebens wie die Versuchspersonen von Fitzgerald: ein Berg am Anfang, dessen Hänge in eine Ebene auslaufen. Wenn man in all diesen Erinnerungen liest, sieht man die beiden hauptsächlichsten Hypothesen aus der Literatur über Reminiszenz dachziegelartig ühereinanderliegen - salopp ausgedrückt: »Damals geschah mehr Denkwürdiges« und »in dieser Periode siedelt man die entscheidenden Szenen aus seinem Leben an«. Die Kapitel über seine Jugend und seine Jahre als junger Erwachsener enthalten zahlreiche Erinnerungen an >erste Male<, ob das nun der erste Tag auf einer neuen Schule ist, das erste Mal, daß er mit nach Maartensdijk darf, der erste Tag als Unterlehrer, die erste Anstellung als Lehrer, das erste Mal, daß er selbst ein Haus kauft. Es gibt auch später noch erste Male - der blitzlichtartige Moment zum Beispiel, als er Lina Vorbeigehen sieht aber ihre Häufigkeit nimmt im Verlauf der Autobiographie ab. Die Erinnerungen an erste Male unterstreichen gleichzeitig auch die >Geschichte< in Van den Hulls Rückblick. Denn etwas ist erst ein erstes Mal, logischerweise, wenn noch weitere Male darauf gefolgt sind, wenn dieses erste Mal, mit anderen Worten, der Anfang eines Erzählstrangs ist. Ohne diesen traurigen Bericht seiner vergeblichen Verliebtheit hätte er Lina nicht zum ersten Mal gesehen. Wer sich an etwas erinnert, kommt wirklich von der anderen Seite: erst hinterher sieht man den Anfang.
Autobiographischem Gedächtnis und Autobiographien ist gemein, daß sich Erinnerungen zu Themen, Motiven, Erzählsträngen ordnen. Sie geraten nach und nach in die Reihe einer Entwicklung. Was jemand über seine Erinnerungen sich selbst oder anderen erzählt, wendet sich an ein Publikum, an Zuhörer, und ist damit schon nicht mehr die nackte Registrierung des Ereignisses selbst. Für die Reminiszenzen von Van den Hull besorgten die Erinnerungen an das, was er erlebt hatte, nur das Rohmaterial; die Interpretation, die er dem Ganzen gibt, erfolgt aus der Perspektive des Rückblicks, in seinem Fall über einen maximalen Abstand von knapp sechzig Jahren. Selbst die frühsten Erinnerungen, wie die an das Begrüßungsritual mit seiner Mutter und die süße Milch, die er bekam, wenn seine Schuhe sauber waren, haben einen Platz in einem Thema, die Fetzen sind fast zu kindisch, um sie zu erzählen, schreibt er, aber »bestimmt nicht gleichgültig in der Erziehung«. Auch die Erlebnisse als junger Passagier im Kahn nach Utrecht, als er auf die Bank klettert und die tiefe Ruhe des frühen Morgens auf sich wirken läßt, haben ihren Platz in einer Geschichte, die das Kind noch nicht kennt und die in diesem Augenblick auch noch gar keine Geschichte ist. Sie entsteht erst dadurch, daß sich der Dreiundsechzigjährige erinnert, diese Reise ein halbes Jahrhundert später noch einmal unternommen zu haben und daß ihm damals bewußt wurde, wer inzwischen alles aus seinem Leben verschwunden war. So schreibt sich das Alter in die Jugenderinnerungen hinein. An manche Ereignisse würde sich Van den Hull, wäre er im Alter von zwanzig Jahren danach gefragt worden, wahrscheinlich genau so erinnern, wie sie nun in
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