Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Eindrücke durchlässiger.«
Das Sanduhrbuch erschien 1954. Ernst Jünger ging auf die 60 zu, als er damit begann. Die Erfahrung, daß sich das Leben zu beschleunigen scheint, je älter man wird, muß ihm aus persönlichem Erleben bekannt gewesen sein. Es ist eine Beschleunigung, die zu der Absurdität führt, daß die vergangenen fünf Jahre des Lebens einer Person genauso lang gedauert haben wie die fünf Jahre zwischen dem fünfzehnten und zwanzigsten Lebensjahr. Und innerhalb dieser Absurdität versteckt sich noch eine zweite, auf die William James 1890 in den Principles of psychology verwies: Wie können sich die Jahre beschleunigen, wenn die Stunden und Tage nicht merklich schneller vergehen und noch immer dieselben sind wie früher?
Für die sich beschleunigende Zeit bieten sich Metaphern leichter an als Erklärungen. »Zeit«, schreibt Gerrit Krol in Een Fries huilt niet (Ein Friese weint nicht), »ist ein Kettchen, das um den Finger schlingert.« Aber warum schlingert dieses Kettchen immer schneller? Rein zahlenmäßige Antworten befriedigen genauso wenig. Der französische Philosoph Paul Janet suggerierte 1877, daß die scheinbare Länge eines Zeitraums im Leben einer Person im Verhältnis zur Gesamtlänge des Lebens steht. Ein zehnjähriges Kind erführe ein Jahr als ein Zehntel seines Lebens, ein Mann von 50 als ein Fünfzigstel. William James sah in diesem >Gesetz< eher eine Beschreibung der subjektiven Beschleunigung als eine Erklärung, und damit hat er recht. Er selbst führte die scheinbare Verkürzung der Jahre zurück auf die Einförmigkeit des Gedächtnisinhalts und der daraus resultierenden Vereinfachung des Rückblicks. Während unserer Jugendjahre machen wir in jeder Stunde des Tages eine komplett neue Erfahrung, subjektiv oder objektiv, das Begriffsvermögen ist lebendig, das Einprägungsvermögen kräftig, und unsere Erinnerungen aus dieser Zeit sind, genau wie die Eindrücke, die wir während einer schnellen und aufreibenden Reise sammeln, stark verzweigt, vielfältig und detailliert. Aber mit jedem Jahr, das verstreicht, wird etwas von dieser Erfahrung in einen automatischen Trott umgesetzt, dessen wir uns kaum mehr bewußt sind. Die Tage und Wochen zerfließen in unserer Erinnerung zu inhaltslosen Einheiten. Jahre werden ausgehöhlt und brechen zusammen.
Diese Erklärung stellt das Gedächtnis in den Mittelpunkt unseres Erlebens von Zeit. Psychologische Zeit tickt auf einer inneren Uhr unter Begleitung unserer Erinnerungen davon. Dauer und Tempo werden im Gedächtnis hergestellt. Die Erfahrung, daß sich das Leben beschleunigt, ist Teil einer ganzen Familie von Zeitillusionen. Manche dieser Illusionen zeigen sich auf einer Skala von Sekunden oder Minuten, andere nehmen Tage, Jahre oder sogar ganze Zeitalter in einem Menschenleben ein. Aber ganz egal, wie ihr Umfang gemessen an Uhr oder Kalender auch sei - ihnen ist gemein, daß sie das Erleben von Zeit mit dem verbinden, was im Bewußtsein geschieht. Schon 1885 sind viele der psychologischen Faktoren, die auf subjektive Zeit Einfluß haben, von dem französischen Philosophen und Psychologen Jean-Marie Guyau (1854-1888) beschrieben worden. In seinem zu kurzen und von Tuberkulose zerfressenem Leben entwarf er eine elegante Theorie über das menschliche Zeitbewußtsein.
»Unter den Straßen, unterirdische Straßen«
Guyau war kaum zwanzig, als er eine tausend Seiten zählende Studie über die Geschichte der Ethik vollendete; bei seinem unzeitigen Tod, 13 Jahre später, umfaßte sein Werk zehn Bücher und viele Artikel, unter anderem über Ästhetik, Soziologie, Pädagogik und Religion. In seinem Leben als Intellektueller scheint doppelt soviel geschehen zu sein, um das Fehlen an Länge auszugleichen. Das Buch, das am meisten zu seinem Ruhm beigetragen hat, La genese de l'idee de temps, erschien 1890, zwei Jahre nach seinem Tod.
Es zählte im normalen Druck kaum mehr als fünfzig Seiten und basierte auf einem 1885 in der Revue Philosophique erschienenen Artikel. Anläßlich des hundertsten Todestages Guyaus besorgten Michon und einige Mitarbeiter eine kommentierte Neuausgabe, der sie eine biographische Einleitung voranschickten.
Jean-Marie Guyau wurde 1854 in Laval geboren. Ein Jahr zuvor hatte sein Vater Jean Guyau die 13 Jahre jüngere Augustine Tuil-lerie geheiratet. Ihre Ehe war nicht glücklich. »Vielleicht hatte Augustine keine so klare Vorstellung von der Hölle, als sie heiratete«, schreibt Michon, »aber das sollte sich bald
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