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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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deutlich, daß wir die dazwischenliegende Zeit unterschätzen. Gespanntes Abwarten kann endlos dauern. Aber ist es erst einmal so weit, scheint das Ereignis, das wir herbeigesehnt haben, nur so zu fliegen - durch den Kontrast zur vorangegangenen Periode beschleunigt sich die Zeit.
    Der Anteil des Gedächtnisses in der Schätzung von Dauer und Geschwindigkeit bedeutet, daß auch unsere Vergangenheit in der Erfahrung des Augenblicks wiederzufinden ist:
    Unter den Städten, die unter der Asche des Vesuvs verschüttet lagen, hat man Spuren von noch älteren Städten gefunden, die ihrerseits in einer noch weiter entfernten Vergangenheit begraben lagen. Ihre Bewohner haben auf der Asche gebaut, von der die vorige Stadt bedeckt worden war. So entstanden Schichten von Städten; unter den Straßen liegen unterirdische Straßen, unter Kreuzungen andere Kreuzungen, die lebende Stadt ist auf schlafenden Städten gebaut. Dasselbe geschieht in unserem Gehirn; ohne das Ganze auszulöschen, bedeckt unser heutiges Leben unser vergangenes, das als Stütze und verborgenes Fundament dient. Wenn wir in unser Inneres hinabsteigen, streifen wir im Schutt herum.
    Die räumlichen Verhältnisse der Perspektive gelten auch für die Schätzung von längeren Perioden in unserem Leben. So wie ein Abstand größer scheint, wenn zwischen Anfangs- und Endpunkt Gegenstände stehen, die den Blick begleiten, wird ein Jahr mit ungewöhnlichen und abwechslungsreichen Ereignissen länger wirken als ein leeres und monotones Jahr. Für Guyau ist die scheinbare Länge eines Zeitraums im Rückblick dadurch bestimmt, wie viele deutliche und intensive Unterschiede wir in den Ereignissen wahrnehmen, an die wir uns erinnern. Darum scheinen die Jahre der Jugend so lang und die des Alters so kurz. Guyaus Erklärung ist ein langes Zitat wert:
    »Die Jugend ist ungeduldig in ihren Sehnsüchten, sie würde die Zeit am liebsten verschlingen, und die Zeit kriecht. Dazu kommt, daß die Eindrücke der Jugend lebendig, frisch und zahlreich sind; die Jahre sind demnach prall gefüllt, unterscheiden sich auf tausenderlei Arten, und der junge Mann schaut auf das vergangene Jahr als auf eine lange Reihe von Szenen im Raum zurück. Die Rückseite der Bühne verschwindet sozusagen in der Ferne, hinter all den wechselnden Dekorationen, die einander folgen wie Kulissenwechsel bei offenem Vorhang; man weiß, daß in Theatern eine ganze Reihe von Bühnenbildern bereit hängen, um sich im passenden Moment vor das Auge des Zuschauers zu schieben. Diese Dekorationen sind die Bilder unserer Vergangenheit, die erneut erscheinen, manche sind verblichen, verschwommen und neblig und erzeugen Abstand, andere dienen als Kulissen. Wir teilen sie nach ihrer Intensität und Reihenfolge des Auftretens ein. Das Gedächtnis ist der Theatermeister. So wird für ein Kind der vergangene Jahreswechsel immer weiter hinter allen Ereignissen verschwinden, die darauf folgten, und der nächste Jahreswechsel wird noch sehr weit weg scheinen, so gern wird das Kind groß werden wollen. Das Alter dagegen ist eher das ständig gleiche Bühnenbild des klassischen Theaters, ein einfacher Ort, einmal eine wahre Einheit von Zeit, Ort und Handlung, die alles um eine einzige beherrschende Tätigkeit konzentriert und den Rest auslöscht, dann wieder die Abwesenheit von Zeit, Ort und Handlung. Die Wochen ähneln sich, die Monate ähneln sich, der monotone Trott des Lebens. All diese Bilder verschmelzen zu einem einzigen Bild. Die Vorstellung sieht die Zeit verkürzt. Sehnsucht macht das gleiche: in dem Maße, wie sich das Ende des Lebens nähert, sagt man nach jedem Jahr >Schon wieder ein Jahr vorbei! Was habe ich damit gemacht? Was habe ich gefühlt, gesehen, erreicht? Wie ist es möglich, daß 365 Tage vorübergegangen sind, die nicht länger als ein paar Monate scheinen ?< Wenn Sie die Perspektive der Zeit verlängern wollen, dann füllen Sie sie, wenn Sie die Chance haben, mit tausend neuen Dingen. Unternehmen Sie eine aufreibende Reise, verjüngen Sie sich selbst, indem Sie die Welt um sich herum erneuern. Wenn Sie zurückschauen, werden Sie merken, daß sich die Vorfälle unterwegs und die Abstände, die Sie reisend zurük-kgelegt haben, in Ihrer Vorstellung angesammelt haben, all diese Fragmente der sichtbaren Welt werden sich in einer langen Reihe aufstellen, und das bietet Ihnen, wie man so passend sagt, eine lange Zeitstrecke.«
    Guyaus eigener früher Tod im Alter von 34 Jahren läßt in dem »wenn Sie die

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