Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Chance dazu haben« einen bedauernden Ton mit-schwingen. Aufreibende Reisen waren ihm in seinen letzten Jahren nicht mehr vergönnt, zumindest nicht im geographischen Sinn. Vielleicht kann man sagen, er hat sich selbst ein längeres Leben verschafft, indem er seine innere Welt immer wieder erneuert hat. Sein schneller, fast besessener Zug durch die unterschiedlichsten Gebiete der Philosophie und Psychologie muß denselben verlängernden Effekt gehabt haben wie eine echte Reise.
Anfang 1888 richtet ein Erdbeben am französisch-italienischen Küstenstreifen großen Schaden an. Auch das Haus der Guyaus wird beschädigt. Man ist gezwungen, einige Nächte in einem feuchten Schuppen zu verbringen. Die zarte Konstitution Guyaus ist darauf nicht mehr eingestellt. Er erkältet sich, und seine Verfassung verschlechtert sich zusehends. Drei Monate später stirbt er in der Nacht vor Karfreitag. Im angrenzenden Zimmer schläft der vierjährige Augustin. Am nächsten Morgen sagt man ihm, sein Vater sei zu einer langen Reise aufgebrochen.
Innere Optik
Guyau machte für seine Erkenntnisse über Zeit eher Anleihen bei seinem persönlichen Erleben als bei Experimenten. Vielleicht gibt das seinen Beobachtungen auch gerade ihre Überzeugungskraft. Es geht etwas Zwingendes von jemandem aus, der eine seismische Empfänglichkeit für sein inneres Leben hat und Worte für Erfahrungen zu finden weiß, die bei einem anderen nicht mehr sind als ein schnell abklingendes Beben. >Introspektion< mag wörtlich >Innenschau< bedeuten, ab einem bestimmten Grad der Verfeinerung ist es eine Methode, die Erfahrungen anderer einschließt und demzufolge gerade nach außen gerichtet ist. Hier berühren sich introspektive Aufzeichnungen und innere Monologe in Romanen, und manchmal scheint das eine Genre im anderen mitzuschwingen. Proust hat einige wundervolle Passagen in Die Welt der Guer-mantes 2 (1920-1921), einem der Teile von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in dem er über die Langsamkeit der Zeit sinniert, die man in gespannter Erwartung verbringt. Der Erzähler hat der begehrenswerten Madame de Stermaria soeben einen Brief zukommen lassen, in dem er sie einlädt, mit ihm zu speisen. Sie läßt ihn wissen, daß er noch vor acht Uhr an diesem Abend einen Brief mit ihrer Antwort erwarten kann. Der Mittag zieht sich endlos hin:
»Der Nachmittag, der mich von diesem Zeitpunkt trennte, wäre ziemlich schnell vergangen, hätte ich einen Besuch zu machen gehabt. Die von Gesprächen umschleierten Stunden mißt und sieht man nicht mehr, sie entschwinden einfach, und erst sehr weit von dem Punkt entfernt, an dem sie uns entwich, wird unserer Aufmerksamkeit von neuem die Zeit bewußt, die so rasch und so heimlich entglitt. Aber wenn wir allein sind, führt die unaufhörliche Beschäftigung damit uns immer wieder den noch fernen, jedoch unablässig erwarteten Augenblick mit der einförmig steten Wiederholung eines Ticktack ins Bewußtsein zurück und unterteilt oder multipliziert vielmehr die Stunden durch alle die einzelnen Minuten, die wir in der Gesellschaft von Freunden nicht gezählt haben würden.«
Schließlich kommt der Brief. Madame de Stermaria willigt darin ein, in drei Tagen mit ihm zu Abend zu essen. Von diesem Moment an kann er an nichts anderes mehr denken als an ihr Rendezvous. Sicher, er wird mit ihr speisen, aber in Wirklichkeit will er sie besitzen; er ist davon überzeugt, daß sie sich ihm an diesem Abend hingeben wird, in seiner Phantasie erlebt er schon von Minute zu Minute, wie er sie liebkosen wird. Die Folgen für die dazwischenliegende Zeit sind fatal:
»Die Tage, die dem geplanten Diner mit Madame de Stermaria vorausgingen, waren nicht etwa köstlich, sondern unerträglich für mich. Im allgemeinen scheint uns die Zeit, die uns von unseren Vorhaben trennt, um so länger, je kürzer sie in Wirklichkeit ist, weil wir in diesem Fall zu knappe Maßstäbe anwenden, oder vielleicht, weil wir sie überhaupt messen. Das Papsttum, sagt man, rechnet nach Jahrhunderten, vielleicht aber liegt ihm Rechnen grundsätzlich fern, weil sein Ziel und Ende im Unendlichen ruhen. Das meine aber stand in einer Distanz von nur drei Tagen vor mir, ich zählte die Sekunden und überließ mich Träumen, die schon der Vorgeschmack von Zärtlichkeiten sind.«
Hier sind Guyaus Gesetze der inneren Optik am Werk: Begierde schärft die Vorstellung und holt das Ereignis - wie das Bild in einem Fernglas - so nah heran, daß der wirkliche Abstand als
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