Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
unverhältnismäßig lang erfahren wird und sich die Zeit träge zu dehnen scheint. Erst wenn die dazwischenliegende Zeit endlich verstrichen ist, erhalten die Ereignisse wieder ihre übliche Schnelligkeit - für den Erzähler leider nicht in die gewünschte Richtung. Als der Abend des gemeinsamen Essens angebrochen ist, schickt er seinen Wagen, um sie abzuholen. Er kommt leer zurück. Der Kutscher übergibt ihm ein Kärtchen von Madame de Stermaria, worauf sie ihm mitteilt, daß sie völlig unerwartet verhindert ist. Sie hat noch hinzugefugt, wie sehr sie es bedauert: »Ich hatte mich so darauf gefreut.« Sie war nicht die einzige.
Auch jenes andere, 1924 erschienene Monument von Zeit und Gedächtnis, Der Zauberberg, spielt auf die Gesetze an, die Guyau schon 1885 formulierte. Hans Castorp hält sich seit einigen Tagen in einem Sanatorium in Davos auf und besucht seinen Vetter, der sich dort zur Kur befindet. Man hat ihn bereits gewarnt, daß eine Woche dort »oben« eine ganz andere Länge hat als unten, inmitten der Geschäftigkeit gesunder Menschen. In einem »Exkurs über den Zeitsinn« philosophiert Thomas Mann über die Wirkung der Langeweile auf die Zeit. Oft wird gesagt, daß Langeweile die Zeit lang werden läßt, daher >lange Weile<. Aber das gilt vielleicht für die Stunde und den Tag, längere Zeiträume wie Wochen und Monate werden gerade kürzer, sie schrumpfen: »Wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein.« Auch das Umgekehrte gilt: ein reicher und interessanter Inhalt ist »wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Solidität, so daß ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich bläst und die verfliegen.« Wer lange leben will, scheint daraus zu folgen, muß den Trott sooft wie möglich durchbrechen, die Umgebung wechseln, auf Reisen gehen, sich Guyeaus Ratschlag zu Herzen nehmen. »Dies ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels, der Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode«, schreibt Thomas Mann. Aber Mann, der so viel mehr gereist ist als Guyau, wußte auch, daß dieser Effekt nicht von Dauer ist:
»Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben jugendlichen, das heißt starken und breiten Gang - es sind etwa sechs bis acht. Dann, in dem Maße, wie man >sich einlebt<, macht sich allmähliche Verkürzung merkbar: wer am Leben hängt oder, besser gesagt, sich ans Leben hängen möchte, mag mit Grauen gewahren, wie die Tage wieder leicht zu werden und zu huschen beginnen; und die letzte Woche, etwa von vieren, hat unheimliche Ra-pidität und Flüchtigkeit.«
Hoch in den Bergen wird Hans Castorp noch viel Gelegenheit bekommen, sich über das Gegenteil dieser Erfahrung zu wundern: die Fähigkeit von Zeit, quälend langsam zu vergehen. Auch bei ihm wird eine Lungenkrankheit festgestellt, schließlich wird er sieben lange Jahre im Sanatorium verbringen.
Proust und Mann zerlegen das Erleben von Zeit in dieselben Faktoren wie Guyau. Die Intensität von Gefühlen, ihre Anzahl, die Schärfe von Erinnerungen und Erwartungen, der Effekt von Trott oder gerade dessen Aufhebung - dies alles gibt der psychologischen Zeit einen eigenen Rhythmus und Dauer. Zeit beschleunigt und verlangsamt sich, schrumpft und zieht sich in die Länge, je nachdem, was im Bewußtsein geschieht. Erfahrungen und ein Gedächtnis, um sie zu speichern - beide sind notwendig, um ein Bewußtsein von Zeit zu entwickeln, erklärt Guyau, denn Zeit »in ihrem Ursprung gibt es im Bewußtsein ebensowenig wie in einer Sanduhr. Unsere Wahrnehmungen und Gedanken entsprechen den Sandkörnern, die durch die enge Öffnung entkommen. Genau wie jene Sandkörner verdrängen sie sich gegenseitig in ihrer Vielfalt statt miteinander zu verschmelzen; dieser rieselnde Sandstrahl, das ist die Zeit.«
Zeitsinn
Guyaus Bild vom »rieselnden Sandstrahl« macht noch etwas anderes deutlich. Unser Vorstellungsvermögen bekommt Zeit nur in den Griff, indem es sie in anschauliche Begriffe faßt. Auf das Wesentliche zurückgeführt: die Sprache der Zeit ist die des Raumes. >Vor<, >nach< und >zwischen< sind genau wie >kurz< und >lang< Markierungen auf einer imaginären Zeitachse. In der westlichen Vorstellung ist das eine kerzengerade Linie, auf
Weitere Kostenlose Bücher