Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Ende schneller gespielt zu werden als am Anfang. Von Ravel weiß man, daß er in große Wut geraten konnte, wenn er bei einer Aufführung merkte, daß der Dirigent ein >acceleratio< eingesetzt hatte.
Taktir-Apparat für Zeitstudien, nach einem Entwurf von Wilhelm Wundt. Er produzierte ein Ticken, dessen Schnelligkeit und Lautstärke genau eingestellt werden konnten.
Experimente mit dem Taktir-Apparat und ähnlichen Gerätschaften füllten immer eine kurze Zeitspanne, meistens eine Handvoll Sekunden, eine halbe Minute war schon sehr lang. Innerhalb dieses Intervalls ließen sich die Reize relativ strikt anbieten, und Abweichungen in Dauer und Tempo subjektiver Zeit konnten mit äußerster Präzision festgelegt werden, falls gewünscht in Millisekunden. Man hoffte, daß sich die Ergebnisse eines genauen Experiments auf der Skala von Sekunden oder Minuten zum Zeiterleben auf der Skala von Tagen, Monaten oder sogar Jahren generalisieren lassen würden. Bei solch großen Einheiten kann man keine Variablen mehr beeinflussen, kann höchstens das Leben selbst experimentieren, wie es bei den Patienten auf dem Zauberberg geschah, aber vielleicht galten im Großen ja doch die Gesetze, die sich im Kleinen exakt bestimmen ließen. Der Gedanke war verlockend. Wie Guyau und Proust mit ihren Beschreibungen aus ihrer persönlichen Innenschau traten, indem sie im Erleben anderer Widerhall fanden, so sollte das endlose Tik-ken, Summen und Rattern experimenteller Apparate die Verformungen von Zeit außerhalb der Laborwände erhellen.
Dieser Sprung auf eine andere Skala erwies sich als nicht komplikationslos. Die Probleme liegen zuallererst auf der begrifflichen Ebene. Selbst der einfachste Versuch, Zeit zu schätzen, kann schon eine Sprachverwirrung verursachen. Jemand bekommt den Auftrag, ohne Hilfe einer Uhr ein Intervall von einer Minute zu messen. Die tatsächliche Länge seiner subjektiven Minute beträgt 50 Sekunden. Ist das ein Fall von l/nferschätzung oder von Überschätzung!' Ersteres, sagt der eine, denn er unterschätzt ja, wie lang eine Minute in Wirklichkeit ist. Letzteres, sagt ein anderer, denn er überschätzt, wie schnell eine Minute verstreicht. Es ist sehr einfach, diese Sprachverwirrung bis zum Punkt ihrer Unent-wirrbarkeit zu treiben. Jemand geht für eine Woche in Urlaub. Die Tage fliegen vorüber. Und ehe er sich's versieht, ist der letzte Tag angebrochen. Beim Nachhausekommen scheint es, als wäre er viel länger als eine Woche weggewesen. Ist die Zeit für ihn nun schneller oder langsamer vergangen? Wenn die Tage schneller vergingen als sonst, wie kann es dann sein, daß sieben dieser vorbeischießenden Tage aufsummiert eine Woche ergeben, die eben gerade länger gedauert zu haben schien? In einer subjektiv langen Woche muß die Zeit doch langsamer verstrichen sein ? Wer neben Begriffen wie >kurz< und >lang< oder >schnell< und >langsam< auch noch >ausdehnen< und >schrumpfen< benutzen will, kann mit einem gordischen Knoten rechnen. Zum Glück gibt es in Zeitstudien einige Konventionen und Begriffsunterscheidungen, die Halt bieten. Für das, was man >unter-< oder >überschätzen< nennt, ist die Uhrzeit der Maßstab. Jemand, der eine subjektive >Minute< von 50 Sekunden angibt, überschätzt vielleicht, wie schnell die Zeit der Uhr läuft, aber es zählt doch als Unterschätzung. Bei der Schätzung von längeren Zeiträumen muß zwischen dem primären und dem sekundären Urteil unterschieden werden. Das Urteil über das subjektive Tempo von Zeit im Moment selbst kann anders ausfal-len als das Urteil über die Länge des Intervalls im Rückblick. Im Urlaub haben die Urteile oft einen umgekehrten Zusammenhang, so daß sieben >schnelle< Tage (primär) tatsächlich eine >lange< Woche (sekundär) ergeben. Derselbe umgekehrte Zusammenhang gilt für Langeweile. Zeit, in der >nichts< geschieht, wird lang, wie Mann schon schrieb, aber nur im primären Urteil, sekundär schrumpft die Zeit. Auch Camus war sich dieser paradoxen Beziehung bewußt. In Der Fremde landet die Ich-Figur im Gefängnis. Die Zeit vergeht, und er hat nicht viel mehr Ablenkungen als seine Erinnerungen und den Wechsel von hell und dunkel: »Ich hatte nicht verstanden, in welchem Maße Tage zugleich lang und kurz sein können. Lang zu durchleben, zweifellos, aber so auseinandergezogen, daß sie schließlich ineinanderflossen.« Als ihm der Gefängnisaufseher eines Tages erzählt, daß fünf Monate um sind, versteht er das kaum: »Für mich war es
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