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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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erstaunt, daß sich sein Geist so resolut der Vergangenheit zuwandte statt der so nahen Zukunft vom Leben zum Tod. Und schließlich: Vieles dessen, was Beaufort erfuhr, zeigt Übereinstimmungen mit Berichten, die später, unabhängig von seinem, geschrieben wurden.
    Fast jede Zeile in seinem Bericht ruft Fragen auf. Woher kommt die schnelle Aufeinanderfolge von Gedanken? Wie kann es sein, daß sich Beaufort jene lange Reihe von Bildern Jahre später doch wieder ins Gedächtnis bringen kann? Warum gingen seine Gedanken erst >vorwärts<, zu dem, wie sich die Nachricht über seinen Tod auf seinen Vater auswirken würde, und danach resolut >riick-wärts<, zum vergangenen Leben? Warum projizierte das Gedächtnis sein Leben in umgekehrter Reihenfolge? War es wirklich sein »gesamtes vorheriges Dasein«? Ist das mit seiner Erfahrung zu vereinbaren, daß er sich auch an »unwichtige Ereignisse« und »kleine nebensächliche Details« erinnerte? Und warum hatte er bei allen Handlungen ein Bewußtsein von gut und böse und das Gefühl der Einsicht in ihren Hintergrund? Seine Darstellung löst auch die Frage aus, ob in dieser Art von Berichten Konstanten aufzuzeigen sind. Ist die Reihenfolge der Bilder immer »zurückreisend«, wie bei Beaufort, oder manchmal auch chronologisch? Gibt es überhaupt immer eine Reihenfolge? Sind es immer Bilder, die man wahrnimmt, oder werden auch manchmal nichtvisuelle Erinnerungen reproduziert? Wird im Rückblick auf das Leben auch gesprochen? Macht die akute Lebensgefahr als Ursache einen Unterschied? Gibt es einen Unterschied zwischen den Erfahrungen von Menschen, die fallen, und solchen, die absichtlich aus einer großen Höhe springen? Zeigt sich die Erfahrung eines schnellen Rückblicks auch bei Menschen, die nicht in Lebensgefahr schweben?
    Unter all diesen Fragen liegt dann noch das Problem der Darstellung der Erfahrung. Beauforts Bericht macht deutlich, daß er etwas erlebt hatte, was völlig außerhalb der Begriffe seiner üblichen Erfahrung lag. Daraufhin mußte er, um seinen Bericht zu schreiben, Worte finden, die sein eigenes Vorstellungsvermögen schon überstiegen. Auch das ist eine Konstante in den Beschreibungen: die Frustration des Autors, daß er in der Sprache, seriell, eine Erfahrung aufrufen muß, die sich eigentlich gerade außerhalb des normalen Zeitverlaufs abspielte. Das ist der Punkt, an dem sich die Berichte auf Metaphern berufen. Fechner läßt im Lagerhaus des Gedächtnisses plötzlich ein alles erleuchtendes Licht angehen, Beaufort sieht sein Leben als »Panoramarückblick«. Auch der heutige stehende Ausdruck ist eine Metapher: »Ich sah mein Leben wie einen Film an mir vorüberziehen.« Die englischsprachige Fachliteratur spricht von >panoramic memory<, eine Bezeichnung, die der englische Neurologe Kinnier Wilson 1928 einführte.
    Die Erfahrung einer Panoramaerinnerung ist gleichzeitig flüchtig und unauslöschlich. Die Umstände der Erfahrung schließen experimentelle Studien aus. Dennoch forschte man überraschend viel danach. Psychiater haben Menschen befragt, die von hohen Brücken gesprungen waren. Ärzte machten Umfragen unter Leuten, die fast verunglückt wären, ertrunken oder im Krieg gefallen. Man untersuchte psychiatrische und neurologische Störungen, die eine ähnliche Bilderabfolge auslösen können. Die Erforschung neuropharmakologischer Stoffe hat interessante Parallelen mit dem Zeiterleben der Panoramaerinnerung erbracht. Aber im Sinne einer Ehrenerweisung ist es angemessen, mit der ersten systematischen Analyse von Erfahrungen während Augenblicken in Todesnot zu beginnen. Sie wurde von jemandem durchgeführt, den man heute als Erfahrungsspezialisten bezeichnen würde, dem Schweizer Geologen Albert Heim (1849-1937).
    Albert Heims Sturz
    Im Frühjahr 1871 machte Albert Heim mit seinem Bruder und drei Freunden eine Klettertour im Säntisgebirge östlich von Zü-rieh. Mit seinen 21 Jahren war Heim bereits ein erfahrener Bergsteiger. Schon früh zeigte er großes Interesse an Geologie. Als er 16 war, konstruierte er ein preisgekröntes Modell des Tödi-Re-liefs. Er hatte an der Universität von Zürich Geologie studiert und sollte nach dieser Bergbesteigung als Privatdozent in der Geologie anfangen. Vier Tage später sollte er seine Antrittsvorlesung halten. Heim leitete die Besteigung. Die fünf Männer waren in schwerem Schneegestöber über der Fehlalp angekommen, etwa 1.800 Meter hoch. Dort erreichten sie die Kante eines steil abfallenden

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