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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Schneestreifens. Die anderen zögerten kurz, aber Heim beschloß, mit dem Abstieg zu beginnen. Wenig später ging es schief. Heim:
    »Im Momente, da ich - infolge der Dummheit, meinen im Wegfliegen begriffenen Hut noch zu fassen - die Führung in den Füßen für die Abfahrt auf Schnee verlor und zugleich auf eine har-stige Stelle geriet, war mir auch klar, daß ich haltlos abstürzen und sehr wahrscheinlich totfallen würde. Diese rasche Einsicht enthielt aber keinen Schreck, keine Angst. Als ich schon gefallen, vom Schneeband auf den äußersten Rand der Felswand geriet, wurde ich gedreht, so daß die weitere Fahrt über Felsen und schließlich der freie Sturz durch die Luft rücklings geschah, den Rücken nach unten, den Kopf abwärts voran. Ich versuchte mit einer Hand zu bremsen. Nachher sah und fühlte ich die aufgerissenen Finger. Den Bergstock aber habe ich nicht fahren lassen.
    Was nun folgte, waren wohl eine Reihe einzelner, klarer Gedankenblitze zwischen einer schnellen, reichlichen Folge von Bildern. (...) Von Gedanken waren ganz klar: 1) Gleich kommt eine Felswand. Unter derselben werde ich auf eine Schutthalde fallen und, weil der Kopf vorangeht, rasch tot sein. Da aber noch viel Schnee liegt, ist es möglich, daß ich auf eine Kante von gehäuftem Schnee falle, wie sie unter Felswänden gewöhnlich Vorkommen, und in diesem Falle ist es möglich, daß ich am Leben bleibe. 2) Im Falle ich unten noch lebend ankomme, will ich sofort das kleine Fläschchen mit Essigäther, das in meiner rechtsseitigen Westentasche sich befindet, herausnehmen und davon einige Tropfen auf die Zunge nehmen gegen Ohnmacht. 3) Während des Sturzes wollte ich, wo immer möglich, die Brille wegnehmen und wegwerfen, um eher das Auge vor Zerschneiden mit Splittern beim Auffallen zu bewahren. Ich versuchte dies, empfand aber die totale Unmöglichkeit, meine Arme und Hände nach Gedanken zu regieren. 4) Ganz bestimmt und klar dachte ich, daß meine Genossen, darunter mein Bruder, wohl vor Schreck fast nicht absteigen könnten, und nahm mir vor, sofort, wenn unten angelangt, gleichgültig, ob ganz oder zerschlagen, zu rufen: >Es hat mir nichts getan!< 5) Die Antrittsvorlesung, die ich als Privatdozent vier Tage später in Zürich halten müsse, wird nun wohl dahinfallen. (Ich habe sie dann doch gehalten -mit steifem Rücken - was niemand merkte.)
    Dann sah ich wie auf einer Bühne aus einiger Entfernung mein ganzes vergangenes Leben in zahlreichen Bildern sich abspielen. Ich sah mich selbst als die spielende Hauptperson. Alles war wie verklärt von einem himmlischen Lichte, und alles war schön und ohne Schmerz, ohne Angst,
    Albert Heim (1849-1937) kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag

    ohne Pein. Auch die Erinnerung an sehr traurige Erlebnisse war
    klar, aber dennoch nicht traurig. Kein Kampf und Streit, auch der Kampf war Liebe geworden. Erhabene und versöhnende Gedanken beherrschten und verbanden die Einzelbilder, und eine göttliche Ruhe zog wie herrliche Musik durch meine Seele. Mehr und mehr umgab mich ein herrlich blauer Himmel mit rosigen und besonders mit zart violetten Wölklein - ich schwebte peinlos und sanft in denselben hinaus, während ich sah, daß ich nun frei durch die Luft flog, und daß unter mir noch ein Schneefeld folgte. Objektives Beobachten, Denken und subjektives Fühlen gingen gleichzeitig nebeneinander vor sich. Dann hörte ich mein dumpfes Aufschlagen, und mein Sturz war zu Ende.
    Für mein Gefühl war es, als ob unmittelbar an den dumpfen Schlußschlag der Musik ein Moment angeschlossen kam, da vor meinen Augen ein schwarzer Vorhang aufgezogen würde. (...)
    Sofort mit dem schwarzen Vorhang war ich bei vollem klarem
    Bewußtsein. Ich griff nach meiner Brille, die aber nicht mehr auf meiner Nase saß, sondern neben mir unversehrt im Schnee lag. Ich rief aus Leibeskräften: >Es hat mir nichts getan<. Ich nahm das Essigätherfläschchen. Ich betastete meine Glieder und meinen Rücken und fand nichts gebrochen. Und nun schaute ich mich um. Ich lag in einer durch meinen Sturz in den Schnee eingeschlagenen Schneegrube auf der Kante eines Schneehaufens unter dem Fels - wie ich es mir als die günstigste Möglichkeit bei Beginn des Absturzes gedacht hatte. Da sah ich nur noch etwa 50 Schritte von mir entfernt meine Begleiter, die ich mir noch hoch oben vorgestellt hatte, schon unten gegen mich vorrücken. Sie sagten, es sei seit meinem Absturz mehr als eine halbe Stunde vergangen, da ich keinen Bescheid auf

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