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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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ihre Rufe gegeben und sie mühsam auf Umwegen hinabklettern mußten. Es war also eine halbe Stunde aus meinem Leben in Bewußtlosigkeit herausgefallen. In diesem Zustand sind einige Minuten oder viele Tage gleich kurz. Die Gedanken und Gefühle setzten unverschoben an dem Punkte wieder fort, an welchem sie abgebrochen worden waren. Ich führte sofort alles aus, was ich mir zu Beginn des Sturzes vorgenommen hatte, und hatte von der Zwischenzeit keine Ahnung.
    Nun halfen sie mir wieder aufstehen. Es ging erst etwas mühsam. Ich konnte stehen - ich konnte gehen. Mehr und mehr stellten sich die Schmerzen ein, die ganze Rückenseite war voller Quetschungen. Nach etwa zwei schweren Stunden, mit vielem Halten, legte man mich auf der Meglisalp ins Bett und pflegte mich so gut als möglich.«
    Es sei bestimmt ungleich viel schmerzlicher, so Heim, sowohl in den Gefühlen des Augenblicks als auch in der späteren Erinnerung, jemanden fallen zu sehen, als selbst zu fallen. Das bestätigten unzählige Aussagen. Oft bleibe der Zuschauer, gelähmt vor Schreck an Körper und Seele zitternd, mit einem Trauma zurück, das er sein Leben lang mit sich tragen werde, während derjenige, dessen Sturz man beobachtet hatte, unter der Voraussetzung, daß er keine schweren Verletzungen davongetragen habe, durch diese Erfahrung keine Angst oder Schmerzen zurückbehalte, auch wenn hinterher bestimmt sehr bald eine Reaktion folge, schwere
    Kopfschmerzen und eine unendliche Müdigkeit. Heim hat selbst mehrfach Menschen fallen sehen, auch wenn sie nicht zu Tode stürzten. Die Erinnerungen seien immer erschreckend geblieben. Er müsse sogar zugeben, daß die Erinnerung an eine Kuh, die stürzte, immer noch schmerzlich für ihn sei, während sein eigener unglücklicher Sturz in seiner Erinnerung als von einem angenehmen Licht beschienen, ohne Schmerz und Todesangst gespeichert sei - genauso wie er dies in Wirklichkeit erfahren habe.
    »Sie fielen in einen herrlichen Himmel hinein«
    Albert Heim war von seinen eigenen Erfahrungen während seines Sturzes überrascht. Er hatte Todesangst erwartet, Panik, Kummer, aber sicherlich nicht die plötzliche Klarheit des Geistes bei seinen Überlegungen, welche Chancen er hatte, lebend davonzukommen, oder den heiteren Rückblick auf sein Leben. In den Folgejahren versuchte er, mehr Fälle ausfindig zu machen, in denen Menschen in akuter Todesnot waren und es überlebt hatten. Rund zwanzig Jahre lang hat er in Briefen und Gesprächen Personen über die letzten Momente vor ihrer Bewußtlosigkeit befragt. Nach seiner Ernennung zum Professor für Geologie an der Universität von Zürich im Jahre 1875 leitete er umfängliche geodätische Projekte in den Alpen, was ihn regelmäßig mit Bergsteigerkollegen in Kontakt brachte. Manche hatten wie er einen Sturz überlebt. Er befragte auch Dachdecker, Maurer, die von einer hohen Leiter gefallen waren, und Arbeiter, die bei der Anlage von Eisenbahntrassen hoch in den Bergen fast verunglückt wären. Heim beschränkte sich nicht auf akute Lebensgefahr durch einen Sturz. Er sprach mit Überlebenden einer Zugkatastrophe auf dem Mönchenstein, besuchte in einem Hamburger Lazarett Soldaten, die im Französisch-Deutschen Krieg von 1870 schwer verwundet worden waren, und befragte einen Fischer, der fast ertrunken wäre. 1892 präsentierte Heim seine Ergebnisse in einer Vorlesung für Bergsteigerkollegen.
    Heim eröffnet sie mit einer unbequemen Frage: Wie können wir wissen, was jemand in den letzten Augenblicken seines Lebens erfahren hat, wenn es nicht wirklich seine letzten Augenblicke waren? Schließlich können wir nur Überlebende befragen, und für sie waren es nicht die letzten Augenblicke. Heim hält dies nicht für einen überzeugenden Ein wand. Bewußtlosigkeit mit Todesfolge unterscheidet sich nicht von Bewußtlosigkeit, der eine wundersame Rettung folgt, nur wird man im letzten Fall sagen können, was der Bewußtlosigkeit vorausging. Wer in dieser Lage gewesen ist, »wird in seinem Leben zweimal gestorben sein«. Also noch einmal: Was empfindet jemand, kurz bevor er stirbt? Nach den Aussagen, die Heim gesammelt hatte, war nahezu jeder, egal, ob er nun viel oder wenig Bildung genossen hatte, durch den plötzlichen Sturz in denselben Geisteszustand geraten. Dieser Zustand ähnelte dem, was Heim selbst erlebt hatte.
    »Es wird kein Schmerz empfunden, ebensowenig lähmender Schreck, wie er bei kleinerer Gefahr (Brandausbruch usw.) erscheinen kann. Keine Angst, keine Spur

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