Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
scharf abgegrenzt, was gerade eben herausfällt, ist genauso dunkel wie das, was weit entfernt ist. Wir haben keine Ahnung,
was wir mit unserer Laterne streifen. Nach Fechner ändert sich das erst, wenn wir sterben. In dem Moment, in dem sich die Augen für die Außenwelt schließen und wir denken, daß die ewige Nacht beginnt, geht in unserem Innern das Licht an. Alles, was uns jemals beschäftigt hat, alles, was wir in unserem Gedächtnis angehäuft haben, werden wir mit einem Blick überschauen. In den Momenten kurz vor dem Sterben erfährt man manchmal schon etwas davon, schreibt Fechner. Im Rückblick auf das Leben tauchen Erinnerungen auf, die definitiv verschwunden schienen. Menschen, denen Tod durch Ertrinken droht, erfahren einen Zustand der den »geistigen Inhalt auf einmal durchleuchtenden Klarheit«.
Fechner beschreibt hier die Wahrnehmung, die in unserer Zeit oft mit dem Satz: »Ich sah mein Leben wie einen Film an mir vorüberziehen« ausgedrückt wird. Im Laufe der Jahre hat man etliche Berichte von Menschen gesammelt, die in akute Lebensgefahr gerieten und in dem, was ihre letzten Momente zu werden schienen, eine schnelle Abfolge von Bildern vor sich sahen. Darunter sind Menschen, die zu ertrinken drohten, aber auch solche, die aus einer großen Höhe fielen oder auf andere Weise für kurze Zeit in Todesnöten schwebten und das nacherzählen konnten. Die ältesten Berichte stammen aus einer Zeit lange vor der Erfindung des Films. Auf Bitten des englischen Naturforschers Hyde Wollaston beschrieb Konteradmiral Sir Francis Beaufort (1774-1857) 1825 in einem Brief, was ihm widerfuhr, als er als junger Matrose 1795 in Portsmouth Harbour ins Wasser fiel und zu ertrinken drohte.
»Obwohl meine Sinnesorgane betäubt waren, schien die Aktivität in meinem Geist stark erhöht, in einem Maß, das jeder Beschreibung spottet; Gedanke nach Gedanke stieg in einem so schnellen Wechsel in mir auf, daß der sich nicht nur nicht beschreiben läßt, sondern wahrscheinlich außerhalb jeglicher Vorstellung von jemandem liegt, der so etwas nicht selbst erlebt hat. Dem Verlauf meiner Gedanken kann ich selbst nun noch in hohem Grad folgen - das Ereignis, das gerade stattgefunden hatte -die peinliche Situation, die dessen Ursache gewesen war: Beaufort
hatte sich, ziemlich ungeschickt, auf die Kante seines Ruderboots gestellt - die Panik, die darauf gefolgt sein mußte - welche Auswirkung das auf einen höchst zugeneigten Vater haben müßte -wie er den Rest der Familie informieren würde - und tausend andere Umstände, die bis in alle Einzelheiten mit zu Hause verbunden waren, das waren die ersten Überlegungen, die sich erhoben hatten. Danach bekamen sie eine größere Reichweite - unsere letzte Seereise - eine frühere Reise, ein Schiffsbruch - meine Schule - wie ich dort vorangekommen war und die Zeit, die ich vergeudet hatte - und sogar alle Dinge, mit denen ich mich als Junge beschäftigt hatte und meine Abenteuer.
So, zurückreisend, schien jedes vergangene Ereignis aus meinem Leben in umgekehrter Reihenfolge durch meine Erinnerung zu ziehen; nicht, wie hier erzählt, in Zusammenfassung, sondern jedes Bild angefüllt mit allen kleinen und nebensächlichen Einzelheiten. Kurzum, mein gesamtes vorheriges Dasein erschien in einer Art Panoramarückblick vor mir, und jede Handlung, die darin vorkam, schien von einem Bewußtsein von gut und böse oder von einer Überlegung in bezug auf Ursachen oder Konsequenzen begleitet zu sein; wahrlich, zahlreiche lang vergessene und unwichtige Ereignisse drängten sich in meiner Vorstellung und hatten den Charakter enger Vertrautheit.«
Daguerreotypie von Sir Francis Beaufort (1774-1857)
Beaufort wurde im letzten Moment gerettet und sollte seinem Land und der Meteorologie noch große Dienste erweisen.
Kann man einem Bericht wie diesem vertrauen? Oder wiederholte Beaufort einfach, was sein Biograph Friendly »the folklore of a drowning man's total recall« nannte? Wahrscheinlich ist das nicht. In seiner Eigenschaft als >The King's Hydrographen hatte Beaufort eine Leidenschaft für Präzision; für seinen Beruf waren Genauigkeit und Zuverlässigkeit die entscheidenden Werte. Sein
Bericht an den gefeierten Dr. Wollaston war als Beitrag zur Wissenschaft gedacht, und so etwas nahm Beaufort nicht auf die leichte Schulter. Obwohl er ein gläubiger Mann war, ergriff er nicht die Gelegenheit, um das, was ihm geschehen war, als religiöse Erfahrung zu präsentieren; er schien eher
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