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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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über das, was er >Schockdenken< nannte.
    Gefragt nach der Reihenfolge seiner Wahrnehmungen, schrieb Heim, diese könne er nicht genau angeben: »Ich glaube, es war vieles gleichzeitig. Ich kann es vielleicht am ehesten vergleichen mit Bildern eines sprunghaften Films oder mit der raschen Folge von Traumbildern.« Weiter unten im Brief erläuterte er noch, daß er die Bilder vor sich sähe »wie Projektionsbilder an einer Wand. Ein Bild löste das andere ab, aber doch in meinem Empfinden alles ohne Hast, in schöner Folge und reichlicher Abwechslung ineinander übergehend, ohne empfindliche Unterbrüche. Die Sekunde war für mein Gefühl wie fünf Minuten.« Heim hatte sich gefragt, ob die Bilderfolge vielleicht umgekehrt gegangen wäre, vom Fall zur Jugend, aber das dachte er dann doch nicht: »So schien mir doch, daß die Theatervorstellung meines Lebens mit der Schule begann und mit dem Fall rückwärts ins Leere oder in den Himmel endigte.« Auf Pfisters Bitte hin beschrieb er auch ausführlicher, welche Bilder er gesehen hatte.
    »Als schaute ich aus dem Fenster eines hohen Hauses herab, sah ich mich als siebenjährigen Knaben in die Schule gehen (altes Schulhaus, Stadt Zürich, >im Kratz<), dann aber erschien mir das Schulhauszimmer mit meinem geliebten Lehrer Weiß, Klasse 4. Ich spielte mein Leben, als wäre ich Schauspieler, auf einer Bühne ab, auf die ich selbst ungefähr wie aus einer höheren Galerie im Theater hinabschaute. Ich war der Held des Stückes und zugleich Zuschauer. Ich war wie doppelt. Ich sah mich, fleißig arbeitend, im Zeichnungssaal der Kantonschule, saß im Maturitätsexamen, machte eine Bergreise, modellierte an meinem Tödi-Relief, zeichnete meine erste Panorama auf dem Zürichberg. Meine Geschwister und besonders meine herrliche Mutter, die in meinem Leben so maßgebend war, waren um mich. Plötzlich kam durch die Bilder ein Moment der Überlegung: >Im folgenden Moment bin ich tot<. Dann sah ich einen Depeschen- oder Briefträger, der meiner Mutter vor der Haustüre die Todesnachricht übergibt. Sie wie die anderen Glieder meiner Familie nehmen die Todesnachricht mit tiefem Schmerz entgegen, aber mit einer erhabenen göttlichen Seelengröße: kein Klagen, kein Jammern, kein Weinen, wie auch ich selbst keine Spur von Angst oder Schmerz erfahre, sondern feierlich und ohne Angst in den Tod gehe.«
    Pfister hat Heims Erlebnisse nicht analysiert. Statt dessen besprach er die Erfahrungen eines fünfundvierzigjährigen Mannes, der 13 Jahre zuvor - im Ersten Weltkrieg - durch einen Granateneinschlag in akute Lebensgefahr geraten war. (Er kam bereits im Kapitel über Dejä-vu-Erlebnisse kurz zur Sprache.) Pfister gründete seine Theorie auf das, was ihm der um Haaresbreite gefallene Offizier über seine letzten Augenblicke berichtete, die Erfahrungen Heims führte er an einigen Stellen als Bestätigung an. Der Offizier hatte nach dem Einschlag eine Reihe von Bildern vor sich gesehen, unter anderem sich selbst als etwa Zweijährigen, der in einer Art Wagen fuhr, und am Ende der Vorstellung, daß er in einem Auto oder mit dem Zug durch eine wunderschöne Landschaft fuhr, begleitet von dem Gefühl, ein herrliches Leben zu haben. Die erste Erinnerung konnte der Mann selbst nicht einord-nen, später erzählte ihm seine Mutter, er sei als Kleinkind regelmäßig in einem Wägelchen gefahren, der von ihrem Hund gezogen wurde. Die Fahrt führte manchmal einen Kilometer weit, ohne Begleitung, der Mann fügte hinzu, er selbst würde niemals ein Kind ohne Aufsicht so weit von zu Hause weglassen. Nach dieser Erläuterung begann Pfister mit einer Deutung, die sich an psychoanalytischen Linien orientierte.
    Das Bild eines Kleinkinds, das gefahren wird, ist anscheinend völlig sinnlos. Erst die Bestätigung durch die Mutter suggeriert eine Erklärung. In diesem Wägelchen befand er sich seinerzeit in Gefahr. Der Hund hätte durch einen anderen Hund angegriffen werden können, er hätte vor einer vorbeirasenden Kutsche erschrecken können. Aber irgend etwas oder jemand hat ihn damals vor der Gefahr beschützt. Nach dem Einschlag im Schützengraben hat das Unbewußte des Mannes eine Parallele gesucht, die über eine durchschaubare Analogieargumentation - du warst damals in Gefahr und dir ist nichts passiert, du bist jetzt in Gefahr, und auch jetzt wirst du beschützt werden ... - in diesem Moment der Todesnot Trost bieten sollte. Als Bild gab es im Bewußtsein nur das Kleinkind in seinem Wägelchen; selbst an

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