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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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den Hund konnte sich der Mann nicht erinnern; es war das Unbewußte, das ihm die emotionale Bedeutung verlieh.
    Die letzte Vorstellung, durch eine wunderschöne Landschaft zu fahren, stimmt Pfister zufolge mit dem überein, was auch für Heim die letzten Bilder waren: wo der abstürzende Alpinist das Gefühl hatte, in einen blauen Himmel mit rosa Wölklein zu schweben, gleitet der Offizier durch eine paradiesische Landschaft. Beide sind befreit von Kummer und Angst, alles fühlt sich lieblich und angenehm an. Kurzum, ihre letzten Bilder sind das Gegenteil der grimmigen Gefahr, in der sie sich befinden. Das Unbewußte wählt gerade die Kontrastvorstellung, um die Wahrnehmung der Realität aus dem Bewußtsein zu verdrängen.
    Die Frage, die sich erhebt - und die sich Pfister auch stellt -, ist, warum sich der menschliche Geist so verhält. Woher kommen die Beschleunigung des Denkens, der Rückblick, die Vorstellung tiefsten Friedens? Pfister sucht die Antwort in Freuds Begriff des >Reizschutzes<. So wie die menschlichen Sinnesorgane vor zu starken Reizen geschützt sind, hat auch der menschliche Geist Mittel, sich gegen zu starke psychische Reize zu wehren. Eines davon ist die >Derealisation<, das Gefühl, daß die Situation, in der man sich in diesem Moment befindet, nicht wirklich ist. Pfister erwähnt das Beispiel eines Bergsteigers, der miterlebte, wie sein Freund zu Tode stürzte. »Als er den Freund aus Mund und Nase blutend liegen sah und röcheln hörte, lachte er innerlich und sagte sich: >Macht nichts, er sieht ihm bloß ähnlich, überhaupt ist die ganze Geschichte nur ein Traum<. Nachdem er wohl eine gute Stunde gewartet und von der Leiche weit weg gegangen war, >dämmerte es in seinem Gehirn< und er fragte seinen Begleiter wiederholt: >Wo ist denn Fischer? Wir waren doch unsrer drei!< Erst als ihm der Führer gesagt hatte, jener sei tot, fühlte er den durch den Bruch des Brustbeines und zweier Rippen entstandenen Schmerz.« Dieselbe Derealisation - »Dies kann nicht wahr sein« - hatte Pfister selbst auch kurzzeitig bei seinen beiden Fast-Abstürzen erfahren. Daß Heim aus der Entfernung zusah, wie sein Leben auf einer Bühne gespielt wurde, wäre ein vergleichbares Mittel, um zu starke Reize abzuwehren.
    Dieser Schutz hat nach Pfister eine biologische Funktion. Die enorme Beschleunigung des Denkens wehrt die normalen Reaktionen von Angst und Entsetzen - und ihre lähmende Wirkung auf das Handeln - ab. Die Gedankenflucht und der Rückblick auf das Leben halten den Stürzenden, den Ertrinkenden, den Verunglük-kenden außerhalb der traumatischen Realität eines sich schnell nähernden Todes. Gleichzeitig verhindern sie, daß das Opfer das Bewußtsein verliert: fiele es wirklich in Ohnmacht, wäre jede lebensrettende Handlung ausgeschlossen. Was Menschen in ihren letzten Momenten erfahren, ist also die Folge eines Schutzes nach zwei Seiten: um eine lähmende Panik zu vermeiden, befreit man die Realität von ihrem allzu angsteinflößenden Charakter, und um dem Abgleiten in die Bewußtlosigkeit vorzubauen, gibt das Unbewußte eine tröstende Vorstellung. Wenn das bewußte Denken trotz des enorm erhöhten Tempos keinen Ausweg bieten kann, übernimmt das Unbewußte die Führung.
    Gegen Ende seines Artikels gleitet Pfister immer mehr in die Personifikationen und Staatsmetaphern, in denen auch Freud so brillierte. In plötzlicher Todesnot muß das Bewußtsein eine Demütigung nach der anderen hinnehmen, es ist machtlos, »wie ein verbannter König, der nur spärliche, unverständliche Nachrichten über die in seinem Land sich abspielenden Vorfälle erhält und bis auf weiteres untergeordneten Instanzen die Herrschaft überlassen muß«. Das erinnert das Bewußtsein daran, »daß es auch im Staatsleben der Einzelseele keinen absoluten Despotismus gibt«. Für Pfister geht »ein demokratischer Zug durch Freuds Psychologie«.
    Die Vorstellung der Panoramaerinnerung als eine Machtergreifung des Unbewußten verursacht ein heikles Problem, auf das Pfister selbst auch hinwies. Wenn bestimmte Wahrnehmungen und Vorstellungen wegen ihres traumatischen Charakters Trost und Beruhigung Platz machen müssen, dann muß irgendwo in unserem Geist die Gefahr dieser Bilder doch durchgedrungen sein. Dieses >irgendwo<, erklärt Pfister, ist das Vorbewußte. Es weiß von der Bedrohung, versucht aber, dies nicht zum Bewußtsein Vordringen zu lassen. Das Vorbewußte erfüllt die Rolle »des Sekretärs, der seinen Chef vor mißliebigen

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