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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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und wolle klar Schiff machen. Sie beichtete, daß sie den ganzen Überfall nur erfunden hatte. Die Kratzer hatte sie sich selbst zugefügt. Die Armbanduhr, die sie als Belohnung für ihr tapferes Eingreifen bekommen hatte, schickte sie zurück. Offensichtlich hatte Jean die Geschichte als Kind gehört und zu einer eigenen Erinnerung gemacht.
    Erste Erinnerungen sind nicht immer von Geschichten zu lösen, die innerhalb der Familie kursieren. In Selbstporträt mit Eltern, dem autobiographischen Roman von Nicolaas Matsier, ist ein Vorfall beschrieben, bei dem der Erzähler, Tjit, nicht entscheiden kann, ob es nun seine erste Erinnerung ist, wie er gern denken würde, oder eine Anekdote, die häufig von seiner Mutter erzählt wurde. In einer Version, der Erinnerung, steht er in der Tür, der Milchmann hat gerade drei Meßbecher Milch in den Topf seiner Mutter gegossen, und während sie kurz ins Haus geht, um Geld zu holen, fragt der Milchmann:
    »>So, Junge. Und, wie heißt du denn?<
    Ich blicke ihn starr an.
    >Hendrik.<«
    Als seine Mutter bezahlt hat, schließt sie die Tür und fragt völlig verblüfft: Hendrik ?
    In der Version seiner Mutter war es nicht der Milchmann, sondern der Lebensmittelhändler, und sie ging nicht ins Haus, um Geld zu holen, sondern um nachzusehen, was sie brauchte. Wenig später ist sich der Erzähler dessen übrigens auch nicht mehr sicher: war es in der Version seiner Mutter nicht doch ein Lebens-mittelgesc/ia/f in der Noorderhoofdstraat?
    Das ist genau die Art von Verwirrung, die bei ersten Erinnerungen öfter vorkommt und darüber hinaus auch spätere Erinnerungen noch begleiten kann. Aber dieselbe Verwirrung zwischen Geschichte und Erinnerung schenkt auch einem Faktor Aufmerksamkeit, der nach Ansicht der Psychologin Nelson für die Ausbildung des autobiographischen Gedächtnisses wesentlich ist. Erste
    Erinnerungen und der allmähliche Rückzug des Gedächtnisschwunds fallen mit der Entwicklung unterschiedlicher Sprachfertigkeiten zusammen. Der Umfang des Wortschatzes wächst. Kinder fangen an, grammatische Zusammenhänge zu verstehen und sie selbst anzuwenden. Sie lernen, daß ein Verb in der Vergangenheit auf etwas verweist, das bereits geschehen ist. Die Fähigkeit, frühere Ereignisse zu erzählen, hat denselben Effekt wie das Wiederholen: es erhöht die Chance, daß jenes Ereignis behalten wird. Das muß nicht immer bedeuten, anderen etwas zu erzählen. Nelson hat in ihrer Studie über >crib-talk<, dem Geplapper von Kleinkindern, bevor sie einschlafen, angemerkt, daß sie sich selbst gern erzählen, was sie alles erlebt haben. Gleichzeitig mit der Entwicklung von Sprache - und zum Teil: gerade dadurch -reifen noch andere abstrahierende Fähigkeiten heran. Kinder beginnen damit, ihre Erfahrungen in Kategorien einzuordnen. Sie bilden Erinnerungen, die Bezug zu gleichartigen Erfahrungen anstelle von individuellen Ereignissen haben.
    Diese Entwicklungen haben einen doppelten Effekt auf das autobiographische Gedächtnis. Viele Erinnerungen an einzelne Ereignisse lösen sich in Schemata und Routine auf. Ein Kleinkind, das an seinem dritten Geburtstag zum ersten Mal in einen Zoo geht, wird noch einige Zeit eine lebendige Erinnerung daran bewahren. Aber wenn dasselbe Kleinkind ein paar Monate später mit Oma und Opa zum zweiten Mal in den Zoo geht und wiederum später bei einem Schulausflug zum dritten Mal, werden sich die Erinnerungen an die einzelnen Male zu einer allgemeinen Vorstellung von >in den Zoo gehen< verflüchtigen. Die Ausbildung abstrakterer Schemata hat demnach gerade einen auslöschenden Effekt auf Erinnerungen. In dieser Hinsicht verhält sich das autobiographische Gedächtnis in all seiner Zartheit nicht anders als in späteren Jahren, wenn sich Erinnerungen an - sagen wir - Ferien in der Bretagne insgeheim zu mehr oder weniger globalen Bildern von kleinen Häfen, Buchten, Klippenwanderungen und Streifenpullovern ordnen. Aber derselbe Prozeß ruft auch das Gegenteil hervor: was um so besser gespeichert wird, sind die Abweichungen, die Ausnahmen, die Überraschungen. Die entscheidende Wendung in dieser Erklärung ist, daß erste Erinnerungen einen Hintergrund aus Wiederholung und Routine erfordern - der erst um das dritte Lebensjahr herum entsteht.
    In älteren Erklärungen wurde der frühe Gedächtnisverlust oft neurologischen Ursachen zugeschrieben. Das menschliche Gehirn
    - und insbesondere der Hippocampus, Läsionsstudien zufolge von grundlegender Bedeutung für das

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