Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
Vom Netzwerk:
Gedächtnis - sei in den ersten Jahren noch so unterentwickelt, daß es unmöglich die Spuren der Erfahrung festhalten könne. Daß sich Kinder schon in sehr jungen Jahren zuverlässig an alles mögliche erinnern können, ist mit dieser neurologischen Erklärung nur schwierig in Einklang zu bringen, während es in der Erklärung, die Nelson vorschlägt, gerade die Voraussage ist: die Erinnerungen sind sehr wohl da, eine Zeitlang, aber sie werden später in abstraktere Strukturen aufgesogen und sind dann nicht mehr individuell aufzurufen. Der Gedächtnisverlust der ersten Jahre ist keine Frage fehlender Verdrahtung oder eines anderen Problems in der >hardware<, wie man das in den achtziger Jahren gerne nannte, sondern der Steuerung, der >software<.
    Es ist übrigens schon früher einmal darauf angespielt worden, wenn auch nicht in einem psychologischen Fachblatt, daß spätere Abstraktionen Erinnerungen teilweise ihrer Kraft berauben, sie letztendlich sogar aufhören lassen können, Erinnerung zu sein. Im Frühjahr 1939, zwei Jahre vor ihrem Tod, begann Virginia Woolf mit ihrer Autobiographie A sketch of the past. Der Text erschien postum. Ihre Schwester Vanessa hatte gesagt, sie solle rechtzeitig anfangen, ihre Memoiren zu schreiben, und verwies dabei auf die unglückliche Lady Strachey, die im hohen Alter ihre Biographie Some recollections of a long life begonnen hatte und nur zu einem knappen Dutzend Seiten kam. Virginia Woolf begann mit dem Anfang: ihrer ersten Erinnerung. Sie bezieht sich auf rote und lila Blumen auf schwarzem Grund - »das Kleid meiner Mutter, und sie saß entweder in einem Eisenbahnwagen oder in einem Omnibus, und ich saß auf ihrem Schoß. Darum sah ich auch die Blumen, die sie trug, aus allernächster Nähe, und mir ist, als sähe ich das Lila, das Rot und das Blau gegen das Schwarz noch immer vor mir; es müssen Anemonen gewesen sein, scheint mir.« Etwas weiter im Text befindet sich eine weitere Erinnerung (»die mit zu meiner ersten zu gehören scheint«) von sich selbst, wie sie im Kinderzimmer ihres Ferienhauses in St. Ives im Bett liegt und den Wellen lauscht, die sich auf dem Strand brechen. Das Sonderbare an beiden Erinnerungen, schreibt Woolf, ist, daß jede sehr einfach war. »Vielleicht ist das charakteristisch für alle Kindheitserinnerungen; vielleicht erklärt das ihre Stärke. Später fügen wir den Gefühlen viel hinzu, was sie komplexer macht und deswegen abschwächt; und wenn nicht abschwächt, so doch weniger einzigartig, weniger einheitlich werden läßt.« Genau diese Hinzufügungen, durch die sie weniger für sich stehen, vergrößern die Chance, daß sie als Erinnerung verschwinden.
    Der Schleier, der Kuß
    Erklärungen über den frühen Gedächtnisverlust lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die eine Kategorie geht davon aus, daß während der ersten Jahre überhaupt keine Erinnerungen gespeichert werden. Ein Beispiel dafür ist die Hypothese, daß das Gehirn dann noch nicht voll entwickelt sei und noch keine dauerhaften Spuren bewahre, ebenso wie die Hypothese, daß man für die Speicherung Sprache braucht. Die zweite Kategorie behauptet, daß Erinnerungen sehr wohl gespeichert werden, später aber unerreichbar sind. Bei den Ursachen für diese Unerreichbarkeit scheiden sich die Geister. Laut Freud sind die Erinnerungen ins Unbewußte verdrängt. Anderen zufolge sind frühe Erinnerungen unerreichbar, weil sie in allgemeine schematische Vorstellungen übergegangen sind oder weil sich die Art und Weise, wie ein Erwachsener die Wirklichkeit wahrnimmt und interpretiert, so sehr vom Sehen und Erleben von Kleinkindern unterscheidet, daß später keine Assoziationen mehr zu den früheren Erinnerungen führen. Die Welt in Kniehöhe ist verschwunden. Selbst wenn man als
    Erwachsener in ein Zimmer zurückkäme, in dem seit der Kleinkinderzeit nichts mehr verändert wurde, ist es doch nicht mehr das Zimmer von damals. Die Möbel, bei denen die Stuhlbeine auf Augenhöhe waren und die Tische lediglich eine Unterseite hatten, sind weg.
    Die jüngste Erklärung für den Schleier, der über den ersten Jahren liegt, siedelt die Ursache im fehlenden Selbstbewußtsein des Kindes an. Solange es kein >Ich< oder >Selbst< gibt, können Erlebnisse auch nicht als persönliche Erinnerungen gespeichert werden. Die Psychologen Mark Howe und Mary Courage sind der Ansicht, daß bei einem kleinen Kind erst eine kritische Masse an Erkenntnissen über sich selbst als einzelnes >Ich< vorhanden sein

Weitere Kostenlose Bücher