Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
muß, bevor es so etwas wie ein autobiographisches Gedächtnis entwickeln kann. Ein Gedächtnis ohne >Ich< ist ebenso undenkbar wie eine Autobiographie ohne Hauptperson. Die ersten Anzeichen, daß sich bei einem Kind allmählich ein Selbstbewußtsein einstellt, lassen sich erst weit nach dem vierten Geburtstag beobachten. Kinder reagieren schon früh auf ihr Bild im Spiegel, sie fassen danach und lachen es an, plappern mit ihm. Um ihren ersten Geburtstag herum begreifen sie etwas von den Eigenschaften des Spiegels und werden sich nach Gegenständen oder Personen umschauen, die sie im Spiegel sehen. Aber erst wenn sie ungefähr anderthalb Jahre alt sind, verstehen sie, daß sie das selbst sind, dort im Spiegel, erst dann greifen sie erstaunt nach ihrer eigenen Nase, wenn dort im Spiegel ein heimlich angebrachter roter Fleck ist. Versuche mit Beduinenkindern, die sich vor dem Experiment noch nie in einem Spiegel gesehen hatten, zeigten, daß Erfahrung mit Spiegeln keinerlei Unterschied macht. Auch auf Fotos können Kinder erst auf sich selbst zeigen, wenn sie mindestens anderthalb sind. Bei einer Verzögerung in der Entwicklung, etwa bei einer geistigen Behinderung oder bei Autismus, folgt unerbittlich auch ein Aufschub der Selbsterkennung. Erst bei einem geistigen Niveau, das anderthalb Jahren entspricht, ungeachtet dem Kalenderalter, wird ein Kind das Bewußtsein von sich selbst als >Ich< entwickeln.
Ein weiteres Zeichen für die Entwicklung von Selbstbewußtsein ist der Gebrauch von >ich< und >mich<. Es sind die ersten persönlichen Fürwörter, die sich ein Kind zu eigen macht, wenige Monate später gefolgt von >du<. Aber ihr korrekter Gebrauch ist kompliziert. So wie sich ein Ort, der gerade noch >dort< war, in >hier< verändert, indem man hinläuft, verändern sich >ich< und >du< durch die jeweilige Perspektive des Sprechers: derselbe Zweijährige ist >ich<, wenn er etwas sagt, und >du<, wenn jemand etwas zu ihm sagt. Verwirrend ist auch, daß es auf der Welt mehrere Menschen gibt, die >ich< sind. Der richtige Gebrauch dieser Fürwörter setzt ein Bewußtsein des Unterschieds zwischen sich selbst und anderen voraus. Um ihren zweiten Geburtstag herum haben es nahezu alle Kinder geschafft, und sie wissen, wann man >ich<, >du< oder >mich< sagt.
Erst wenn es ein >Ich< gibt, das Erfahrungen zu den Erinnerungen einer Person vereinigt, kann sich ein autobiographisches Gedächtnis entwickeln. Ist es einmal geöffnet, wird dieses Register fortan die Aufzeichnungen desjenigen enthalten, der gleichzeitig Autor und Hauptperson ist. Die Hypothese von Howe und Courage stimmt mit der Nelsons darin überein, daß sich nicht das Gedächtnis selbst verändert, sondern die Art und Weise, wie Erinnerungen geordnet und festgelegt werden. Fragen der Priorität -fördert das Selbstbewußtsein das autobiographische Gedächtnis oder umgekehrt? - sind nebensächlich, es sind Prozesse, die keinen präzisen Anfangspunkt haben, nicht in eine Richtung gehen und von denen man vielleicht noch nicht einmal die vorherrschende Richtung feststellen kann. Sicher ist, daß in vielen autobiographischen Texten die erste Erinnerung mit dem Bewußtsein einer eigenen Identität verbunden ist. Für Nabokov war das erste Blitzlicht im Dunkel die Entdeckung, daß er und seine Eltern jeweils ein Alter hatten; diese Erkenntnis, schrieb er, war mit dem inneren Wissen verbunden, »daß ich ich war und meine Eltern meine Eltern.« Laut der amerikanischen Schriftstellerin Edith Wharton erwachte ihr Gedächtnis zugleich mit »der Geburt des bewußten und weiblichen Ichs« an einem klaren Wintertag in New York. In ihrer Autobiographie A backwa rd glance erzählt sie: »Das kleine Mädchen, das schließlich ich werden sollte, aber das damals weder Ich war noch jemand anderes im besonderen, sondern nur ein sanftes, namenloses Stück Menschheit - dieses kleine Mädchen, das meinen Namen trug, ging mit ihrem Vater spazieren.« Man hatte ihr die wärmste Jacke angezogen, sie trug eine wunderbare Satinkappe mit Schleier. Während des Spaziergangs begegnete ihr Vater seinem Vetter Henry mit dessen Söhnchen Daniel. »Der kleine Junge, der ganz rund und rosig war, betrachtete sie mit gleichem Interesse; und plötzlich streckte er eine mollige Hand aus, hob den Schleier des kleinen Mädchens hoch und gab ihr einfach einen Kuß auf die Wange. Es war das erste Mal -und das kleine Mädchen fand es sehr angenehm.«
Lieblicher kann es nicht anfangen. Ein Schleier, der sich
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