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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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keine Geräusche aus dem angrenzenden Zimmer zu hören, alles vergebens, es steigt nichts hoch. Dann entspannt er sich, denkt kurz an andere Dinge, um seine Konzentration wieder zu Kräften kommen zu lassen, und wagt einen letzten Versuch. Tief in seinem Innern spürt er, »wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat; ich weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre dabei den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume.« Was dort nach oben zu kommen versucht, dessen ist er nun sicher, ist das Bild, die visuelle Erinnerung, die zum Geschmack des Tees und des Kuchens gehört. Aber dieses Bild gleitet immer wieder zurück, in die Tiefe, er muß bestimmt zehnmal von vorne anfangen. Schließlich gelingt es ihm, die Erinnerung zu identifizieren:
    »Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madelaine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Haus ging), sobald ich in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, Tante Leonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madelaine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte; vielleicht kam das daher, daß ich dies Gebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte und daß dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit anderen, späteren, verbunden hatte; vielleicht auch daher, daß von jenen so lange aus dem Gedächtnis verschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich in nichts aufgelöst hatte.«
    Sobald der Erzähler den Geschmack erkennt, kommen auch andere Erinnerungen zurück. Er sieht wieder den Hausanbau an der Rückseite des Hauses der Tante, die Stadt, den Platz, er erinnert sich an die Straßen, in denen er einkaufte und durch die er bei schönem Wetter spazierte.
    »Und wie bei den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschüssel kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee.«
    In der Gedächtnispsychologie steht das >Proustphänomen< inzwischen für die Fähigkeit von Gerüchen, frühe Erinnerungen aufzurufen. Es wird oft als schneller, nahezu augenblicklicher Prozeß dargestellt, ln dieser Hinsicht ist die Szene mit dem Gebäck nun gerade kein Beispiel für ein Proustphänomen: es kostete den Erzähler viel Zeit und Mühe, sein Löffelchen voll Tee und Kuchenkrümeln mit Erinnerungsbildern zu verbinden. Was von einem Moment zum anderen zustande kam, war die Assoziation mit einem Gefühl , einem Glücksgefühl, das Erinnerungsbild selbst ließ noch lange auf sich warten. Merkwürdig ist auch, daß die Empfindung, die Proust beschreibt, als klassische Assoziation zwischen Geruch und Erinnerung weiterlebt, während der Erzähler doch das Gebäck und den Tee schmeckt. Die Szene dreht sich vor allem um Geschmack. Das ist eine Verwechslung, die durchaus verständlich ist. Für den Geschmack haben wir nur vier Rezeptoren für süß, sauer, bitter und salzig, die übrige Geschmackspalette ergänzt der Geruch. Wir schmecken vor allem, was wir riechen. Daß es wirklich so etwas wie ein Proustphänomen gibt, ist für manche Psychologen übrigens keine ausgemachte Sache. Ebensowenig, was es genau beinhaltet. Sind es vor allem die frühen Erinnerungen? Oder Erinnerungen, die nur über Geruchsassoziationen zugänglich sind? Oder sind es Erinnerungen, an die man davor nie mehr gedacht hatte? Das sind kleine, aber wesentliche Unterschiede in der Definition, und die Ergebnisse der Erforschung von Geruch und Gedächtnis sind nicht für jede dieser Versionen des Proustphänomens gleich überzeugend.
    Frisches Sägemehl
    Daß Gerüche Erinnerungen an die Jugend hervorrufen können, war schon vor Proust so etwas wie eine Volksweisheit. Der Geruch einer bestimmten Sorte Leim erinnerte Dickens nicht nur an die Etiketten, die er ein halbes Jahrhundert

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