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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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sieht es so aus, als wären zwei Stückchen Gehirn in die Nase gerutscht, dem Reiz entgegen.
    Auch die Strecke hinter den beiden Bulbi ist kurz und übersichtlich. Die Bulbi haben direkte Verbindungen zu einem tiefgelegenen Teil des Gehirns, dem limbischen System. Andere Abzweigungen, etwa zum Neocortex, gibt es kaum. Auch das limbische System ist evolutionär gesehen ein alter Teil des Gehirns. Es besteht selbst wiederum aus einer Ansammlung von Strukturen, die bei Wachsamkeit und Gefühlen betroffen sind. Es gibt auch direkte Verbindungen zwischen dem Geruchsorgan und dem Hippocampus, eine Struktur, die für die Speicherung von Erinnerungen wesentlich ist. Der Geruchssinn ist kein ausgesprochen schnelles Sinnesorgan: nach einer ersten Sortierung in angenehm oder unangenehm verstreichen ein paar Sekunden zwischen Reiz und Identifizierung, aber die Strecke zwischen Eintreffen und Speicherung ist kurz und ohne Nebenwege. Es ist, als würde der Geruchsreiz wie der Verdächtige einer aufsehenerregenden Straftat außer Sicht der Neugierigen direkt vorgeführt.
    Der Preis für diese privilegierte Strecke ist der fehlende Kontakt mit den Teilen des Gehirns, die für das Verstehen und die Erzeugung von Sprache zuständig sind. Einmal vorgeführt, schweigt sich der Reiz aus. Der Geruchssinn ist als >stummes Sinnesorgan* bekannt. Gerüche sind kaum zu beschreiben, schon gar nicht losgelöst von den Gegenständen, die den Geruch absondern. Was wir an einer Apfelsine sehen, kann man sprachlich gut wiedergeben und einem anderen verständlich machen: rund, orange, etwa sieben Zentimeter im Durchmesser, kleine Dellen in der Schale. Was wir an einer Apfelsine riechen, ist nur als Apfelsinengeruch zu umschreiben. Allgemeinere Beschreibungen von Gerüchen wie süß oder säuerlich sind dem Geschmack entlehnt. Oder sie verweisen auf unsere Wertschätzung: herrlich oder ekelhaft, himmlisch oder abscheulich. Im 18. Jahrhundert entwarf Linnaeus eine Klassifikation von Gerüchen, die Pflanzen absondern, mit der Behaglichkeit oder Unbehaglichkeit des Geruchseindrucks als Kriterium. Seine Skala verlief in sieben Klassen von aromatisch bis würzig, über köstlich, scharf oder knoblauchartig und stinkend oder ziegenartig bis zu widerwärtig und ekelerregend. In vielen Beschreibungen verrichtet die Nachsilbe >-artig< gute Dienste. Es ist auffällig, daß Blinde Gerüche besser identifizieren und benennen können als Sehende, obwohl ihr Geruchsvermögen nicht empfindsamer ist. Die Ursache liegt wahrscheinlich darin, daß sie die Quelle von Gerüchen schwieriger ausmachen können und sich deshalb auf die Eigenschaften des Geruchs selbst konzentrieren müssen.
    Kurzum, der Wortschatz für Gerüche ist ausgesprochen eingeschränkt und an die Quelle des Geruchs gekettet, arm an Klassifikation und Abstraktion. Riechen geht an der Sprache vorbei.
    Die Ausbildung des autobiographischen Gedächtnisses, das zeigte sich im vorigen Kapitel, verläuft gleichzeitig mit der Entwicklung von Sprache. Die Festlegung persönlicher Erinnerungen scheint bestimmte abstrahierende Fähigkeiten in Anspruch zu nehmen, vielleicht Sprache selbst, vielleicht etwas, das sich als Nebeneffekt von Sprache entwickelt. Ab dem dritten oder vierten Lebensjahr hebt sich der Nebel des Gedächtnisverlusts allmählich, aber auch nach den >ersten Erinnerungen* dauert es noch einige Jahre, bevor ein dichterer chronologischer Verlauf von Erinnerungen entstanden ist. Das Histogramm von Chu und Downes steht repräsentativ für die Ergebnisse der meisten Forschungen: erst ungefähr ab dem zehnten Lebensjahr beginnt sich das autobiographische Gedächtnis wirklich zu füllen. Dieselben Wissenschaftler fanden für Erinnerungen, die durch Gerüche hervorgerufen waren, eine Spitze, die ein paar Jahre früher lag. Die Ursache dafür könnte sein, daß Erinnerungen aus diesem Zeitraum ihre Speicherung der Tatsache verdanken, daß sie an der Sprache vorbeigegangen sind. Durch die spezielle Verdrahtung des Geruchssinns im Gehirn sind sie direkt zum Hippocampus geleitet worden, und danach können sie auch nur über diese Route wieder zum Leben erweckt werden. Das könnte erklären, weshalb ein Geruch oft zunächst nur eine Atmosphäre aufruft, eine schwierig in Worte zu fassende Stimmung, und erst später, manchmal unter großer Anstrengung, die dafür verantwortliche Erinnerung gefunden wird. Dieser Verlauf paßt in die evolutionäre Aufgabe des Geruchssinns: eine schnelle erste Reaktion, die den

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