Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Geruch mit Gefahr, Wohlbefinden oder Spannung assoziiert, danach die etwas mehr Zeit erfordernde nähere Identifizierung. Das Proustphänomen ist nach dieser Auffassung eine Verschwörung von Evolution und Neurologie.
Die Treue von Geschmack und Geruch
Eine überzeugende Erklärung verhält sich zur Existenz oder Nichtexistenz eines bestimmten Phänomens wie ein Motiv zum Delikt: man darf sie nicht mit einem Beweis verwechseln. Daß es wirklich ein Proustphänomen gibt, werden manche Psychologen erst glauben, wenn es überzeugend unter Laborbedingungen nachgewiesen wird. Diese Skepsis ist nicht ganz unbegründet. Ob Gerüche ältere Erinnerungen hervorrufen als andere sinnliche Reize, ist nur in einer umfänglichen vergleichenden Studie festzustellen. Wer die Reize nur gut genug auswählt, kann auch über andere Sinnesorgane bei frühen Erinnerungen landen. In Selbstporträt mit Eltern von Nicolaas Matsier betrachtet der Erzähler ein Foto seines früh verstorbenen Bruders Jan, der in seinem »Streifenpullover aus Restewolle« lacht. Er sieht den Knopfverschluß auf der linken Schulter. »Wirklich auf der linken Schulter? Erstaunt fasse ich mit meinen Händen an diese Stelle und blicke die Stellung meiner siebenundvierzigjährigen Finger an. Ja, jetzt erinnere ich mich an die Geste, mit der wir die drei, vier lästigen Knöpfchen durch ihre Schlaufen zwängten - Knopflöcher konnte man sie nicht nennen.« Hier ist es eine Handbewegung, ein Gefühl in den Fingern, das ein lang vergessenes Detail aus der Jugend aufruft. Auf einem Flohmarkt kann einem das geheimnisvolle grüne Auge der Skalenabstimmung eines altmodischen Radiogeräts plötzlich den Namen >Beromünster< einfallen lassen. Ein anderes Mal kommt aus einem Nähkästchen ein Kopierrädchen zum Vorschein, und man sieht wieder vor sich, wie die Mutter auf dem freigeräumten Tisch Schnittmuster aus einer Nähzeitschrift übertrug. Die Assoziationen sind beiläufig, die Anlässe zufällig. Gemeinsam ist ihnen, daß man sie kaum experimentell aufrufen kann. Dafür sind sie zu flüchtig, zu persönlich, zu sehr an spezifische Altersgruppen oder sogar soziale Kreise gebunden. Schlußfolgerungen in Dezimalzahlen sind beim Proustphänomen nicht zu erwarten.
Auch bei Proust selbst hatte der Geruch übrigens nicht das Alleinrecht auf frühe Erinnerungen. Viel später in Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit macht der Erzähler einen schnellen Schritt zur Seite, um der Straßenbahn auszuweichen, verliert beinahe das Gleichgewicht und erinnert sich wieder an die ungleichen Kacheln in einer venezianischen Kirche, die er vor langer Zeit besucht hatte. Oder er wischt sich mit einer gestärkten Serviette die Lippen und denkt auf einmal an die Handtücher im Hotel von Balbec, wo er als Junge die Sommerferien verbrachte. Dennoch waren es Gerüche, die die Erinnerung am weitesten zurückreichen ließen, und darum hat der Geruchssinn in Prousts Grübeleien auch immer einen privilegierten Platz behalten. Nachdem ihm die Erinnerung an die in den Tee getunkten Madelaines von Tante Leonie wieder eingefallen ist, sinniert er häufig: »Aber wenn von einer frühen Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher, aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie herumirrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.«
Literatur
D. Ackerman, A natural history of the senses, New York 1990.
S. Chu & J.J. Downes, »Long live Proust: the odour-cued autobiographical memory bump«, Cognition, 75 (2000), B41-B50.
J. Delacour, »Proust's contribution to the psychology of memory. The reminiscen-ces from the standpoint of cognitive Science«, Theory and Psychology, 11 (2001), 255-271.
D.A. Laird, »What can you do with your nose?«, Scientific Monthly, 45 (1935), 126-130.
N. Matsier, Gesloten huis, Amsterdam 1994. Zitiert aus: Selbstporträt mit Eltern, Zürich 2001.
C. Murphy & W.S. Cain, »Odor identification: the blind are better«, Physiology and Behavior, 37 (1986), 177-180.
M. Proust, Ä la recherche du temps perdu. Du cöte de chez Szvann (1913). Zitiert aus: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ln Swanns Welt I, Frankfurt 1976.
D.C. Rubin, E. Groth & D.J. Goldsmith, »Olfactory
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