Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
assoziierte er immer mit seinem Onkel Lern, der starb, als er selbst noch ein kleiner Junge war. Onkel Lern hatte sich gerade als Arzt niedergelassen und trug einen neuen, wollenen Überzieher. Später hatte ein Freund des Korrespondenten genau so eine Jacke gekauft, und der Geruch der Wolle verband sich mit Erinnerungen an den Freund. Wiederum später bekam dieser Freund seinen »eigenen« Geruch, den von Pfeifentabak und Zigaretten, und der Geruch der Wolle weckte wieder die vertraute Assoziation mit dem Onkel Lern. Derselbe Korrespondent fügt noch die interessante Anregung hinzu, daß Gerüche, denen man oft begegnet - »wie etwa der Geruch türkischer Zigaretten« - mit so vielen Erinnerungen assoziiert werden, daß sie einander auslöschen und aufheben. Auf Dauer bleibe nur die angenehmste oder unangenehmste Erinnerung übrig, und oft sei das auch die älteste Assoziation: »Ich glaube, Leute meines Alters und älter neigen dazu, sich durch Geruchsassoziationen vor allem zu frühen Erinnerungen leiten zu lassen, weil die dazwischenliegenden Assoziationen so zahlreich sind, daß sie auf einen Haufen geworfen und negiert werden.«
Außer einer Mischung aus Lindenblütentee und Madelainekrü-meln können also auch der Geruch von Leim, Sägemehl, Mist, Parfüm, Salbei, Flieder und Wolle emotional gefärbte Erinnerungen aufrufen. Das scheint in zwei Varianten stattzufinden. Manchmal geschieht es wie bei Proust in zwei Phasen. Jemand fängt einen Geruch auf, häufig noch ohne daß er sich dessen bewußt wird, und stellt einen plötzlichen Stimmungsumschwung bei sich fest. Verwundert versucht er festzustellen, welche Erinnerung für diese Stimmung verantwortlich ist, und erst wenn das gelungen ist, kann er den Geruch mit einer Erinnerung verbinden. In anderen Fällen ist der Verlauf so schnell, daß es eine direkte Assoziation zwischen Geruch und Erinnerung zu geben scheint, ohne die Stimmung als Bindeglied. Für Erinnerungen wie diese scheint der Geruch über andere Sinnesorgane wie Auge und Ohr zu dominieren. Immer wenn Anblick oder Geruch beide ein Reiz für Erinnerung sein können - wie ein Häufchen frisches Sägemehl oder ein paar Salbeizweige -, ist es der Geruch, der die stärkste Wirkung hat: es reichte nicht, das Kästchen mit Salbei zu öffnen, der Rechtsanwalt aus Nevada mußte wirklich daran riechen. Der Anblick von Sägemehl war vielleicht aus demselben Grund nicht so wirkungsvoll, wie Proust für die Madelaines vorschlug, die er schon öfter beim Konditor hatte liegen sehen: das Bild kann sich später mit neuen Erinnerungen verbunden und sich dadurch von den alten Assoziationen gelöst haben.
Geruch und Gedächtnis im Labor
Sind Erinnerungen, die durch Gerüche aufgerufen werden, wirklich lebendiger und älter? Sind sie enger mit Stimmungen verbunden als Erinnerungen, die man mit dem assoziiert, was man sieht, hört, fühlt? Die Korrespondenten in Lairds Studie waren wohl davon überzeugt, aber vielleicht wiederholten sie nur eine Idee, die nun einmal bestand und die näherer Überprüfung nicht standhalten würde. Laird und seine Mitarbeiter fragten nicht nach dem Alter der Erinnerungen oder nach Erinnerungen, die durch andere sinnliche Reize als Gerüche aufgerufen worden waren. Die moderne Psychologie ordnet persönliche Erfahrungen wie die von Lairds Korrespondenten (und übrigens auch die des Namensgebers des Proustphänomens) gern unter der Überschrift anekdotische Evidenz< ein, was nicht sehr geschätzt wird. Für eine genauere Messung, Prüfung und zum Vergleich wäre es praktisch, das Proustphänomen im Labor hervorzurufen, damit es experimentell manipuliert werden kann. Die Versuche in dieser Hinsicht hatten wechselnden Erfolg.
David Rubin und einige Mitarbeiter gaben ihren Versuchspersonen als Stimulus entweder einen Geruch oder den Namen dieses Geruchs, also den Geruch von Mottenkugeln oder das Wort >Mottenkugel<. Es gab 15 Stimuli, darunter die Gerüche (und Worte) >Kaffee<, >Babypuder<, >Münze<, >Erdnußbutter< und >Scho-kolade<. Die Versuchspersonen schrieben nach jedem Stimulus die erste Erinnerung auf, die durch den Geruch oder das Wort hervorgerufen wurde. Auf einer Sieben-Punkte-Skala geben sie an, wie lebendig oder deutlich die Erinnerung war und wie angenehm oder unangenehm sie sich fühlten, sowohl im Augenblick als auch im erinnerten Moment. Sie sollten auch angeben, ob sie sich selbst in der Erinnerung sahen - nach Freud der Beweis für den rekonstruierten Charakter früher
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