Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Erinnerungen - und ob es eine Erinnerung war, an die sie später ab und zu noch einmal gedacht hatten und, falls ja, wann zuletzt. Die Versuchspersonen gaben sich Mühe, ihre Erinnerungen mit Bezeichnungen wie >letzte Woche<, >vor einem Jahr< oder >als ich zehn war< nachträglich so genau wie möglich zu datieren.
Das gesamte Experiment war aufgestellt worden, um das Proustphänomen zu testen, und Rubin und seine Mitarbeiter erwarteten, daß die Erinnerungen, die durch Gerüche hervorgerufen worden waren, lebendiger sein würden, angenehmer und -vor allem - älter. Vielleicht wären es auch, als zusätzlicher Beweis für ihr Alter, Erinnerungen, in denen sich die Versuchspersonen selbst sahen. Aber von all dem keine Spur. Das einzige, worin die Geruchserinnerungen von den übrigen abwichen, war eine etwas höhere Chance, daß es ein Ereignis betraf, an das die Versuchspersonen nicht kürzlich zurückgedacht hatten oder an das sie sich nun durch das Experiment zum ersten Mal wieder erinnerten. Als experimenteller Beweis für das Proustphänomen war dies ein armseliges Ergebnis.
Gibt es das Phänomen denn überhaupt? Die Versuche Rubins sind kein Beweis dafür, daß es nicht existiert. Mit diesem Aufbau des Experiments war die Chance auf proustartige Erinnerungen schon im vorhinein nicht groß. Assoziationen zwischen Gerüchen und alten Erinnerungen sind außerordentlich persönlich. Für den einen ist es der Geruch von Reis mit Butter und Zucker, der Erinnerungen an das samstägliche Mittagessen hervorruft, für den anderen, der eine Tür weiter aufgewachsen ist, der Geruch von Makkaroni mit Soße. Dasselbe Samstagsgefühl von warmem Mittagessen, ausgelöst durch unterschiedliche Gerüche. Es ist kein berechtigter Vorwurf an Rubin, daß diese Gerüche nicht dabeiwa-ren, aber wenn es einen Prousteffekt gibt, dann hätte er sich in seinem Experiment nicht leicht zeigen können. Selbst Proust in höchsteigener Person hätte in diesem Experiment nicht gut abgeschnitten. Nicht so sehr, weil der Geruch von Lindenblütentee und Madelaines fehlte, sondern weil es so lange dauerte, bis er die dazugehörige Erinnerung greifen konnte, daß das Experiment schon abgeschlossen gewesen wäre, bevor er von Combray hätte anfangen können.
Histogramm des durchschnittlichen Anteils autobiographischer Erinnerungen pro Lebensabschnitt. Die weißen Säulen sind durch Gerüche ausgelöste Erinnerungen, die schwarzen Säulen sind Erinnerungen, die durch Wörter auf gerufen wurden.
Die Psychologen Chu und Downes hatten mit einem etwas anderen Aufbau mehr Erfolg. Aus anderen Experimenten war bereits bekannt, daß ältere Versuchspersonen ab etwa sechzig Jahren in Studien mit Signalwörtern im Verhältnis viele Erinnerungen aus ihrer Jugend und dem frühen Erwachsenenalter erzählen. Dieser >Reminiszenzeffekt< verursacht in Histogrammen, die den prozentualen Anteil von Erinnerungen pro Lebensabschnitt darstellen, einen >Höcker< ungefähr in der Zeit zwischen 15 und 25 Jahren. Chu und Downes wandten dasselbe Verfahren an wie Rubin: man bot den Versuchspersonen Gerüche, wie etwa Essig, Talkumpuder, Tinte, Hustensaft, Lavendel oder den Namen dieser Gerüche an. Der entscheidende Unterschied zu Rubins Experiment lag im Alter der Versuchspersonen: bei Rubin waren sie etwa zwanzig Jahre alt, die Versuchspersonen von Chu und Downes waren durchschnittlich um die siebzig. Das führte zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Erinnerungen, die durch die Namen von Gerüchen hervorgerufen worden waren, fielen bei den Älteren in das Muster des Reminiszenzeffekts: eine Überrepräsentation von Erinnerungen an die Zeit zwischen elf und 25 Jahren. Die Verteilung bildete einen ausgeprägten Höcker mit einer Zunahme, einer Spitze und einer Abnahme. Für die Erinnerungen, die durch die Gerüche selbst hervorgerufen worden waren, lag es anders: eine Spitze im Alter zwischen sechs und zehn und danach eine allmähliche Abnahme. Das ist eine massive Verschiebung. Ab dem Moment, da es Erinnerungen gibt, also unmittelbar nach dem Zeitraum des frühkindlichen Gedächtnisverlusts, rufen Gerüche bei Älteren fast zweimal soviel Erinnerungen hervor wie die Namen dieser Gerüche.
An diesem Ergebnis ist etwas paradox. Bei Siebzigjährigen hat die Empfänglichkeit für Gerüche buchstäblich nur noch einen Bruchteil ihres früheren Umfangs, höchstens noch ein paar Prozent. Nach dem zwanzigsten Lebensjahr geht das Geruchsvermögen drastisch zurück. Die
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