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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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blättere, die ich selbst in
    den vergangenen zwanzig Jahren von meiner Familie geschossen habe, sehe ich, daß ich es vollkommen verkehrt gemacht habe. Sicherlich würde ich mich gern einmal daran erinnern, wie unsere Kinder aussahen, wenn sie sich als Kleinkinder mit erhitzten Köpfen zankten, aber bei Streit habe ich offensichtlich nie gedacht: Schnell, den Fotoapparat! Was haben wir statt dessen fotografiert? Geburtstagstorten. Torten mit drei, mit vier, mit fünf Kerzen. Und fünf Jahre später, als das Zweite da war, noch mehr Torten, Partyhütchen, Luftschlangen. Wir sind auch im Urlaub gewesen: die Kinder graben ein Loch am Strand von Texel, am Strand von Vlie-land, am Strand von Terschelling. Offensichtlich lieben wir die Abwechslung. Die Osterbrötchen, die die Kinder gebacken haben, sind auch alle Jahre wieder zu sehen, genau wie die Weihnachtsbäume und die Laternen von Sankt Martin.
    Ich betrachte all diese Fotos und denke darüber nach, daß mir
    das Alltagsleben entwischt ist. Gerade weil es zu alltäglich war, habe ich es nicht behalten, und es gibt keine Fotos, die mir helfen, es zurückzuholen. Man nimmt das Fotoalbum, schlägt eine Seite nach der anderen um und sieht nur Zeltstöcke, die nicht zu dem Zelt passen, das man jetzt am liebsten aufschlagen würde.
    Literatur:
    K. van Bennekom, De familie Van Bennekom, Amsterdam 1990.
    G. Krol, »De kunst van het vergeten«, Tirade, 38 (1994), 55-60.

Als ob es gestern war
    Als ich etwa vierzehn Jahre alt war, spielte ich für das Dameteam unserer Schule, der christlichen Realschule in Leeuwarden. Ein begnadeter Spieler war ich nicht. Ich spielte mit großem Enthusiasmus, aber ohne viel Routine oder Talent. In früheren Partien hatte ich Aufmerksamkeit erregt, im negativen Sinn, indem ich in der Eröffnungsphase in alle Fallen gegangen bin, vor denen Jungs, die in einem Dameclub spielten, bereits in der ersten Stunde gewarnt wurden. Unser stärkster Spieler war Johan Capelle. Er besetzte das erste Brett, der Zweitstärkste spielte an Brett zwei und so weiter. Am zahlenmäßig niedrigsten Brett saß der schwächste Spieler.
    Eines Tages mußten wir gegen ein Team der städtischen Hauptschule antreten. Am ersten Brett saß Harm Wiersma, 13 Jahre alt und schon eine Legende in Friesland. Bevor wir mit der Partie begannen, rief uns der Teamleiter zusammen. Er hatte einen Plan. Der Wiersma ist so stark, erklärte er, daß es zu schade wäre, ihm unseren stärksten Spieler zu opfern, denn egal, wen man ihm gegenübersetzt, der verliert sowieso. Johan sollte besser gegen ihr zweites Brett spielen. Wir ließen die Logik einen Augenblick auf uns einwirken. »Aber wenn man so argumentiert, muß also gerade äh ...«, fing einer an; er brauchte seinen Satz nicht zu Ende zu bringen. Fünf, sechs Teamkameraden drehten sich zu mir um. Ich bekam einen roten Kopf, nickte, daß ich verstanden hatte, und setzte mich hinter das erste Brett.
    Warum haben wir so ein irrsinnig gutes Gedächtnis für Demütigungen?
    Man frage jemand x-beliebigen, ob er sich einen Moment vor Augen holen kann, in dem er sich gedemütigt fühlte, und man be-
    kommt einen Bericht, der so detailliert, so plastisch ist, daß es den Anschein hat, als führte das Gedächtnis ein eigenes Register dafür. Kränkungen werden mit wischfester Tinte eingetragen. Sie verjähren nie. Beim Alterwerden reisen sie in der Zeit mit, so daß nie mehr als 24 Stunden zwischen dem Ereignis und der Erinnerung zu liegen scheinen.
    Als Wilhelm Wundt nach einem langen und arbeitsamen Leben in seinem 88. Lebensjahr seine Autobiographie schrieb, Erlebtes und Erkanntes, standen ihm von seinen ersten Schuljahren vor allem die Sticheleien seiner Mitschüler noch klar vor Augen. Wenn er an seine Jahre am Gymnasium dachte, erinnerte er sich, daß seine Tagträume ab und zu unterbrochen wurden durch »Ohrfeigen, von denen mir manchmal stundenlang die Wange brannte«. Das war nicht die einzige Demütigung. Ein Geschichtslehrer gab Wundt ungebeten einen Rat für seine zukünftige Laufbahn: »Noch erinnere ich mich einer Rede, die er mir vor versammelter Klasse hielt und in der er mir versicherte, daß nicht jeder Sohn eines studierten Herrn (Wundt stammte aus einem Pastoren- und Professorengeschlecht) studieren müsse. Es gäbe Berufe genug, die ganz ehrenhaft seien, aber die Mühe des Studierens nicht voraussetzten. Insbesondere riet er mir einen solchen als Postboten an.« Wundt fügte noch hinzu, daß dieses Amt »entweder an

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