Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Es war gegen neun oder zehn Uhr morgens.« Manche erinnerten sich an das Ereignis fast wie an einen inneren Film.
Ein wenig verkürzt:
Mein Vater und ich waren auf dem Weg nach A., im Staat Maine. Als wir von einem Hügel hinunter in die Stadt fuhren, spürten wir, daß etwas nicht in Ordnung war. Die Leute sahen so traurig aus, alles war in heller Aufregung. Mein Vater ließ das Pferd anhalten und fragte vom Bock herunter: »Was ist los, Freunde, was ist passiert?« »Haben Sie es nicht gehört?« war die Antwort. »Lincoln wurde erschossen.« Meinem Vater glitten die Zügel aus der Hand. Er blieb regungslos sitzen, während ihm die Tränen über die Wangen strömten. Wir waren weit weg von zu Hause und es gab noch viel zu tun; nach einiger Zeit fing er sich wieder und schweren Herzens verrichteten wir die Arbeit, für die wir gekommen waren.
Mit der Blitzlichtanalogie meinten Brown und Kulik nicht, daß die Erinnerung aus einem Foto besteht, auf dem man nachträglich noch allerhand Details betrachten kann. Was sie jedoch meinten, ist, daß die Erinnerung außer einem Bild der Umstände oft auch die Art von Details enthält, die sozusagen versehentlich mit auf das Foto geraten sind, Details, die sonst schon längst wieder vergessen wären, zum Beispiel daß derjenige, der einem die Nachricht überbrachte, die ganze Zeit nervös an einem losen Faden seines Pullovers herumfummelte. Es ist, schreiben Brown und Kulik, als würde irgendwo im Gehirn ein >now print!<-Mechanismus aktiviert, der ohne viel Unterscheidungsvermögen die gesamte Szene festhält.
Bei manchen Ereignissen, wie dem Mord an Kennedy, dem Tod von Diana oder, erst vor kurzem, den Anschlägen vom 11. September, scheint bei allen Leuten so ein Blitzlicht ausgelöst zu werden. Es gibt auch Ereignisse, die nur auf nationaler Ebene zu Blitzlichterinnerungen führen, wie in Schweden der Mordanschlag auf Olof Palme (1986) und in England der Rücktritt Margaret Thatchers (1990). Wieder andere sind persönlich, zum Beispiel wenn man eine beunruhigende Nachricht über einen Angehörigen bekommt. Brown und Kulik haben in ihrer ersten Studie zehn Ereignisse untersucht, die offenbar Blitzlichterinnerungen aufriefen. Darunter befinden sich Mordanschläge wie auf Präsident Kennedy, Robert Kennedy und Martin Luther King, gescheiterte Anschläge wie auf Präsident Ford und Todesfälle wie der von General Franco. Nicht alle diese Ereignisse verursachten gleich viele Blitzlichterinnerungen. An den Tod von Robert Kennedy erinnerte sich nur die Hälfte der befragten Personen in dieser Form. Es stellte sich heraus, daß auch der ethnische Hintergrund der Befragten - vierzig schwarze und vierzig weiße Amerikaner - einen Unterschied machte.
Der Mord an dem militanten schwarzen Aktivisten Malcolm X führte bei schwarzen Amerikanern zu viel mehr Fällen von Blitzlichterinnerungen als bei weißen Amerikanern. Für den Mord an King galt dasselbe. Beim Tod von Medgar Evers, einem schwarzen Bürgerrechtler, der für gleiche Rechte kämpfte und 1963 von einem weißen Rassisten erschossen wurde, war der Unterschied am größten: kein einziger Weißer hatte daran eine Blitzlichterinnerung. Beim Anschlag auf Präsident Ford und dem Tod Francos lagen die Verhältnisse umgekehrt. Auf den ersten Blick kurios ist, daß der (gescheiterte) Anschlag auf George Wallace, einem Politiker von ganz rechts außen, bei schwarzen Amerikanern zu mehr Fällen von Blitzlichterinnerung führte als bei weißen. Die Erklärung liegt vielleicht darin, daß seine Kampagnen für Schwarze ernstere und bedrohlichere Konsequenzen hatten als für Weiße.
Warum gibt es eigentlich einen solchen Mechanismus für Blitzlichterinnerungen? Warum behalten wir nicht, wie bei fast allem, was wir zu sehen oder zu hören bekommen, nur die Nachricht? Brown und Kulik suchten die Erklärung in der Neurophysiologie: die unerwartete emotionale Regung führe zu einer Aktivierung des Gehirns und zur Speicherung von mehr Einzelheiten in kürzerer Zeit als sonst. Sie äußerten den Gedanken, das >now print !< sei ein evolutionärer Rest aus der Zeit vor der Entwicklung von Sprache oder anderen abstrakteren Formen von Kommunikation: wenn man von einem Moment auf den anderen in einer Situation ist, in der man Information mit umwälzenden Konsequenzen verarbeiten muß, ist es wichtig, so viele Aspekte der Situation zu behalten wie nur irgend möglich, und wenn es nur dazu dient, nicht ein zweites Mal in eine solche Lage zu
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