Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
Vom Netzwerk:
keine fünf Buchstaben nachsprechen konnte, während er nach einem Auftritt alle vorgelegten Aufgaben reproduzieren konnte. Bei Rechenwundern scheint die Fähigkeit, lange Ziffernfolgen zu behalten, eher das Ergebnis der vielen Rechnerei zu sein als deren Ursprung. Damit entfällt auch die Überzeugungskraft einer zweiten Hypothese: daß Rechenwunder das ganze Einmaleins auswendig gelernt haben, nicht das Einmaleins bis 12 oder 13, wie die meisten von uns, sondern bis 100 oder 200. Das Memorieren all dieser Produkte würde das Gedächtnis enorm beanspruchen. Gerade für ein Rechenwunder ist es viel einfacher, mal eben etwas zu multiplizieren, als das Ergebnis dauerhaft zu behalten.
    Die Verbindung zwischen Ziffern und Gedächtnis liegt auf einer ganz anderen Ebene. Für Rechenwunder haben Ziffern Eigenschaften und Beziehungen, die ein anderer nicht sieht. Zahlen rufen Assoziationen hervor, die ihnen Bedeutung verleihen, in dieser Hinsicht haben Zahlen viel Ähnlichkeit mit Worten. Rechenwunder sehen Zahlen im Zusammenhang. Für Wim Klein (>Willy Wurzel<), lange Zeit Weltmeister im Wurzelziehen, war die Zahl 429 das Ergebnis von 3 mal 11 mal 13 und auch noch das Todesjahr (v. Chr.) von Perikies. Als Aitken einmal hörte, wie jemand die Jahreszahl 1961 nannte, fiel diese Zahl für ihn in 37 mal 53 auseinander, oder in die Summe der Quadrate von 44 und 5 oder in die Summe der Quadrate von 40 und 19. Diese Aufteilungen stiegen unwillkürlich auf, sie brauchten nicht bewußt ausgerechnet zu werden. Durch die Assoziationen können Zahlen auch eine emotionale oder ästhetische Bedeutung haben. Als Shyam Marathe zum ersten Mal über den Grand Canyon flog, sagte er, daß ihn das an die zwanzigste Potenz von 9 erinnere.
    Daß Ziffern und Zahlen für ein Rechenwunder dem ähneln, was für uns Wörter und Sätze sind, ist eine hilfreiche Analogie. Niemand behält ein Wort als Sammlung einzelner Klänge oder einen Satz als zufällige Gruppe von Wörtern. Die Bedeutung fügt sich von selbst hinzu, augenblicklich, so schnell, wie wir lesen oder zuhören. Wie das geschieht, entzieht sich unserer Wahrnehmung. Die Prozesse, die uns in die Lage versetzen, zu lesen, zu sprechen oder zuzuhören, sind der Selbstbeobachtung nicht zugänglich. Auch das stimmt mit den Rechenwundern überein: sie können nur selten angeben, wie sie zu ihren Ergebnissen gelangen. Aus dem Mund von Rechenwundern wie Aitken und George Bidder jr. sind zwar Berichte darüber aufgezeichnet worden, wie sie zu Werke gehen, aber in die Prozesse hinter ihren Techniken haben diese nicht viel Klarheit gebracht. Aitken hat sogar einmal erklärt, er habe den Eindruck, in einer tieferen Schicht seines Bewußtseins werde schon vor ihm gerechnet und daß er wenig mehr täte, als eine unbewußt bereits gefundene Antwort noch einmal nachzurechnen, ohne es jemals korrigieren zu müssen.
    Bei Savants gibt es noch nicht einmal solche Berichte. Die meisten Rechensavants sind Kalenderrechner. Sie sind fast ohne Ausnahme autistisch. Und wenn sie sprechen können, sind sie nicht in der Lage zu erklären, wie sie die richtige Antwort finden. Introspektive Berichte über ihre Arbeitsweise kommen nicht über das Niveau von »Na ja, es gibt sieben Tage in der Woche ...« hinaus. Dennoch hat man in den letzten Jahren ziemlich viele psychologische Experimente mit Kalenderrechnern durchgeführt, und man kann auch einige Schlußfolgerungen daraus ziehen. Eine sehr kleine Minderheit von Kalenderrechnern hat Daten auswendig gelernt. Diese Savants haben höchstens zehn Jahre in ihrem Repertoire. Manche haben schlichtweg Kalender auswendig gelernt, andere benutzen >Ankertage<. Innerhalb dieser Jahre liegen dann einige hundert Daten verstreut, von denen sie genau den Tag wissen, meistens Tage, an denen etwas geschehen ist, das für sie persönlich wichtig ist. Die übrigen Tage ermitteln sie, indem sie von einem solchen Ankertag aus vorwärts oder rückwärts rechnen. Die Denkzeit erhöht sich proportional, je weiter der gefragte Tag vom Ankertag entfernt liegt.
    Die überwiegende Mehrheit der Kalenderrechner beantwortet Fragen über zukünftige Daten genauso schnell wie die über vergangene Daten, und das bedeutet, daß sie nicht nur von ihrem
    Gedächtnis Gebrauch machen. Eine auf der Hand liegende Hypothese könnte sein, daß sie die Antwort ausrechnen. Kalender unterliegen Regelmäßigkeiten, die in Rechenverfahren (Algorithmen) ausgedrückt werden können. Ein Beispiel eines solchen

Weitere Kostenlose Bücher