Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Auswendiglernen gerade so sehr fehlt: Abstraktion. Wie kommt es, daß ein musikalischer Savant Gefühl für die komplexe Ordnung von Akkorden und Tonarten hat, während ihm Sprach-strukturen verschlossen bleiben? Warum kann ein Kalenderrechner sehr wohl die impliziten Regeln des Kalenders entziffern, aber nicht die einer simplen Multiplikation?
Lateralität
Eine Hypothese, die zumindest einen Teil der losen Befunde in einen verständlichen Zusammenhang stellt, wurde von zwei Harvard-Neurologen formuliert, Galaburda und Geschwind. Während der embryonalen Phase, zwischen der zehnten und achtzehnten Woche, zeigt sich bei der Anlage des Gehirns eine Beschleunigung des Wachstums: auf dem Höhepunkt der Entwicklung hat das Wachstum des Gehirns den Charakter einer Explosion: dann entstehen alle zwei Sekunden ungefähr zehntausend Neuronen. All diese Neuronen sind in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt: kurz vor der Geburt wird von den Neuronen, denen es nicht gelungen ist, mit den anderen Neuronen Verbindungen einzugehen, ein großer Teil wieder absterben. Aufgrund von Versuchen mit Gehirnen von Menschen und Tieren nehmen Galaburda und Geschwind an, daß sich die linke Hälfte etwas langsamer entwickelt als die rechte und dadurch länger für schädliche pränatale Einflüsse verwundbar bleibt. Einer der möglichen schädlichen Einflüsse ist das männliche Hormon Testosteron, das im Körper zirkuliert, während die Testikel der Frucht angelegt werden. Aus bislang nicht bekannten Gründen hat ein hoher Testosteronspiegel einen hemmenden Effekt auf das kortikale Wachstum. Durch das unterschiedliche Entwicklungstempo der beiden Gehirnhälften können die Folgen links ernsthafter sein als rechts. In einem solchen Fall, argumentieren Galaburda und Geschwind, können freie, noch ungebundene Neuronen von links nach rechts wandern. Im äußersten Fall kann das zu einer Dominanz der rechten Gehirnhälfte führen.
In der Verteilung psychischer Funktionen würde man dann später genau das Muster erwarten, das man bei Savants findet: ein Handicap in den Funktionen, die bei den meisten Menschen vor allem durch die linke Gehirnhälfte gesteuert wird, wie die Verarbeitung und Erzeugung von Sprache, sowie eine kompensierende Verschiebung in Richtung von Aufgaben, die mit räumlicher Information zu tun haben, wie etwa Stadtpläne auswendig zu lernen oder mit einem Blick Muster festzulegen. Diese Hypothese würde auch das faszinierende Phänomen erklären, weshalb männliche Savants in der Überzahl sind: im weiblichen Fötus ist der Testosteronspiegel viel niedriger. Daß es dieselbe Überrepräsentation von Männern auch bei leichteren Sprachstörungen wie Dyslexie gibt, reiht sich da gut ein. Und vielleicht noch das wichtigste Verdienst: Wenn die Verschiebung eine Frage der Abstufung und nicht ein vollständiger Wechsel der Dominanz ist, hat auch die Variation in den Fertigkeiten von Savants einen passenden neurologischen Hintergrund.
Leon Miller hat vielen seiner Befunde über musikalische Savants eine überzeugende Stellung in der Hypothese der kortikalen Verschiebung gegeben. Bei zwei seiner Savants gibt es Hinweise auf neurologische Störungen in der linken Gehirnhälfte. Der eine ist rechtsseitig gelähmt, beim anderen hat man auf Scanbildern links im Gehirn atrophiertes Gewebe festgestellt. Nahezu alle musikalischen Savants haben schwere Sprachstörungen. Damit verfällt eine psychische Funktion, die unter normalen Umständen gerade der wichtigste Kommunikationskanal ist. Das bedeutet auch, daß eine mögliche Blockade für die Entwicklung anderer Funktionen entfällt. Sprache und Musik haben in mancherlei Hinsicht rivalisierende Funktionen, wobei sich Sprache auf einer leicht vorherrschenden Position befindet: wir können sehr wohl lesen und sprechen, während im Hintergrund Musik erklingt, Musik dagegen wirklich zu hören, wenn dazwischen geredet wird, ist viel schwieriger. Savants entwickeln ihre Empfindsamkeit für Musik in einem Alter, das für die Entwicklung von Sprache ein kritischer Zeitraum ist. Die Energie, die normale Kinder in den Erwerb von Wortschatz stecken, das Gefühl für Klang und Intonation, das sie dafür entwickeln müssen, die Entdeckung der impliziten Regeln für Wortbildung und Satzbau, die Steuerung der subtilen Motorik für Lesen, Sprechen und Schreiben, die sie lernen müssen, das Erkennen von Buchstaben und Wortbildern - das alles hält der Savant für die Entwicklung und Verfeinerung seiner
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