Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Hälfte steht und Schwarz auch, bekommt man so eine ellenlange Reihe von bedeutungslosen Folgezügen, ohne daß noch irgendein Muster in die Stellung kommt. Und das, während die Partie im höheren Sinn durch den Steinverlust bereits entschieden ist. Das sind echte Katastrophenpartien. Das ist mir beim Blindsimultanspiel 1993 passiert: Ich machte zu Anfang einen Damezug, mein Gegner nahm mir die Dame ab mit Steinverlust, was entscheidend ist, aber trotzdem ging es noch ungefähr acht Stunden weiter. Letzten Endes war es eine der längsten Partien des Simultanspiels. Ich habe zwar damals all diese Folgezüge gut behalten, aber das war harte Arbeit. Von solchen Partien braucht man wirklich keine 18. Vor dem letzten Simultanspiel habe ich mit dem Schiedsrichter vereinbart, daß der Gegner in so einem Fall freundlich darum ersucht wird, aufzugeben, auch wenn man ihn natürlich nicht dazu verpflichten kann. Meine Gegner haben sich sorgfältig daran gehalten. Ich glaube, es gab sogar einen Spieler, der in Remissteilung aufgegeben hat.«
Es gibt offensichtlich noch mehr Hindernisse für jemanden, der blind Dame spielt. Jede Stellung ist ein räumliches Muster, hat aber auch eine Entwicklung. Es sind Manöver im Gange, man stellt Fallen auf, bereitet Umklammerungen vor. Man muß in der Zeit also auch noch navigieren.
»Wenn man eine bestimmte Berechnung gemacht hat und der Gegner folgt diesem Plan, er macht die Züge, die man erwartet hat, dann erfordert es viel Konzentration, gut zu behalten, in welchem Augenblick des geplanten Spielgangs man sich genau befindet.«
Großmeister Ton Sijbrands
Wenn Sie nachdenken, bewegen Sie manchmal die Finger, als würden Sie im luftleeren Raum Züge ausprobieren.
Was machen Sie dann eigentlich? »Ich ticke oft leicht gegen den Tischrand, eine Art Rhythmus. Jedes Ticken steht für einen Zug von Schwarz und dann wieder einen Zug von Weiß und so weiter. Es hat nichts mit der Richtung der Züge zu tun, es geht um den Rhythmus des Spiels.«
Wenn Sie in Mustern denken, in mehr oder weniger logischen Entwicklungen, bringen Patzer Ihrer Gegner das Spiel dann auch durcheinander? »Die erfordern tatsächlich sehr große Konzentration. Das schwierigste ist ein Gegner, der solide spielt und plötzlich einen idiotisch schlechten Zug macht. Um sich dann zu trauen, die auf der Hand liegende Widerlegung zu spielen, braucht man viel Mut, man denkt: Wahrscheinlich irre ich mich, das kann fast nicht wahr sein. Man hat schreckliche Angst, selbst etwas zu verpatzen, geht davon aus, daß der Gegner schon irgend etwas beabsichtigte mit seinem seltsamen Zug. Man geht die ganze Partie noch einmal im Geiste durch, um wirklich sicher zu sein, daß es sich tatsächlich um einen Patzer handelt. Auch deswegen habe ich großes Interesse daran, Gegner mit Niveau zu haben, die logische Züge machen.«
Wie schätzen Sie die Qualität Ihres Spiels in einer Blindsimultanpartie im Verhältnis zu einer normalen Partie? »In einer normalen Simultanpartie hätte ich bei diesen Gegnern nicht mehr Punkte erzielt, als ich es jetzt getan habe. Ich verliere in einer Blindsimultanpartie auch nicht öfter als sonst, ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben nur zweimal eine Blindpartie verloren. In einem Blindsimultanspiel habe ich den Vorteil, daß ich sitzen bleiben kann. Das klingt sehr banal, aber die Tatsache, daß man sitzt, fördert die Konzentration. Es ist schwierig, das Niveau der Partien genau zu bestimmen. Man spielt gegen gute Spieler, und das ist auch wünschenswert, denn das erhöht die Chance auf erkennbare Muster, aber es sind natürlich nicht die allerbesten Spieler.«
So ein Blindsimultanspiel muß ein gewaltiger Anschlag auf Ihr Konzentrationsvermögen sein. Wird es schwieriger, die Konzentration beizubehalten, je weiter die Partie voranschreitet ? Nimmt die Spannung zu oder eher ab? »Die läßt herrlich nach! Immer wieder einen Namen durchstreichen zu können hilft, den Mut zu behalten. Mittendrin ist es oft schwierig. Dann hat man schon eine Menge Stunden hinter sich und weiß, daß es nochmal so lange dauert. Aber mit der Stellung auf dem Brett hat das nicht so viel zu tun, an die kann ich mich noch genauso gut erinnern. Wenn einmal das Endspiel in Sicht kommt, wird es eigentlich immer leichter. Das einzige Problem, das ich mir am Schluß noch vorstellen könnte, ist ein Endspiel mit mehreren Damen für mich selbst und meinen Gegner, zum Beispiel ein Fiinf-um-Zwei-End-spiel. Das ist theoretisch zwar
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