Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Hauptklassespieler und 14 starke Spieler. Sijbrands hat ihnen kurz zuvor die Hand geschüttelt und ihnen viel Vergnügen bei der Partie gewünscht. Um zwanzig vor zehn gibt er über eine Standleitung seine Eröffnung für Brett 1 durch: 32-28. Genau 15 Stunden später, um zwanzig vor eins in der Nacht, gibt der letzte Gegner auf. Sijbrands hat 17 Partien gewonnen und drei Remisen eingeräumt. Keiner der Gegner hatte ernsthafte Gewinnchancen.
Sijbrands, ehemaliger Weltmeister, schlug mit diesem Ergebnis von 92,5 Prozent seinen eigenen Rekord. 1982 spielte er in Den Haag zum ersten Mal offiziell eine blindsimultane Partie, als er den Weltrekord von acht auf zehn Bretter brachte. Seither hat er seinen Titel nicht mehr abgegeben. Vorschläge, die Anzahl der Gegner bei jedem Rekordversuch um einen zu erweitern, hat er immer stilvoll abgewiesen. Die Blindsimultanpartie in Gouda war in Bezug auf den ersten Titel eine Verschärfung um 100 Prozent.
In diesem letzten Simultanspiel wurden 1.708 Züge gespielt. Jeder Zug ist eine Wahl zwischen vielfältigen Möglichkeiten, die beurteilt werden müssen. Nach den Eröffnungszügen entsteht ein
Entscheidungsbaum, dessen Verästelungen sich im Mittelspiel zu einer vollen Krone verdichten. Sijbrands stand vor 20 derartigen Bäumen. In den 15 Stunden der Simultanpartie müssen ihm Zehntausende von Positionen durch den Kopf gegangen sein. Wie schafft er das? Hat er ein fotografisches Gedächtnis? >Sieht< er all diese Stellungen?
In dem Gespräch, das wir ein halbes Jahr nach der Blindsimultanpartie führen, erweist sich diese Frage als keine gute Eröffnung. »Das ist die Frage, die ich befürchtet habe. Ich sagte vor ein paar Tagen zu meiner Frau: Er fragt bestimmt, was ich eigentlich vor mir sehe, wenn ich so eine Blindsimultanpartie spiele. Und ich kann das kaum beschreiben. Was steht einem nun genau vor Augen, wenn man an die Stellung denkt? Es ist ein Bild, aber nicht sehr konkret. Es ist zum Beispiel nicht so, daß ich auch den Rand des Bretts sehe oder die Art der Damesteine oder die Farben. Ich glaube, es unterscheidet sich nicht so sehr von dem, was man vor sich sieht, wenn man eine normale Partie spielt und man sich die zukünftigen Zügen vorzustellen versucht. Jeder Damespieler, der vorausdenkt, spielt eigentlich auch blind. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich hoffe nicht, daß damit unser Gespräch ins Wasser fällt?«
Dann eben erst ein paar Umwege. Gibt es vielleicht Strategien, mit deren Hilfe Sie es sich leichter machen? Benutzen Sie Codes?
»In der Eröffnungsphase ja. Ich habe Ende der achtziger Jahre ein Codesystem für Eröffnungen entwickelt. Dieser Code besteht aus maximal drei Ziffern. Die meist gespielte Eröffnung, 32-28, hat als erste Ziffer eine 1. Bei einer Blindsimultanpartie benutze ich acht verschiedene Eröffnungen, und die kopple ich an die Brettnummern. An Brett 1 spiele ich dann 32-28, an Brett 2 spiele ich 33-28 und so weiter. Es gibt theoretisch neun Eröffnungen, aber Eröffnung 32-27 - bei mir ist das Code 9 - spiele ich nicht. Die mag ich irgendwie nicht, weil die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß sie schnell in die Stellung der Eröffnung 31-27 oder 31-26 übergeht. Eröffnung 8 ist ziemlich riskant, 35-30, ein sehr gefährlicher Eröffnungszug. Den spiele ich zwar, aber ich versuche, an Brett 8 dann auch einen Gegner zu kriegen, bei dem es hoffentlich die Mittel erlauben. Brett 9 hat dann wieder Eröffnung 1 und so weiter.« So ein Code bringt also Ordnung in die Eröffnungsphase und hilft Ihnen dabei, sich alle Stellungen wieder vor Augen zu rufen? »Genau. Ich wäre verrückt, wenn ich immer wieder dieselben Eröffnungen spielen würde. Ich variiere die Partien eher möglichst viel. Am liebsten sind mir vollkommen unterschiedliche Spielbilder. Trotzdem muß man aufpassen, denn man kann zwar unterschiedlich eröffnen, aber später können daraus doch die gleichen Stellungen werden. In diesem Simultanspiel gab es zwei Partien, auf Brett 3 und Brett 19, die elf Züge lang parallel liefen, und dem habe ich dann selbst ein Ende bereitet, denn das ist eine zusätzliche Belastung für das Gedächtnis.«
Welche Partien sind am schwierigsten zu behalten? »Partien, die gar kein Muster haben, die machen mir am meisten Angst während eines Simultanspiels. Einen großen Schlagabtausch zu Anfang, der mit Steingewinn endet, muß ich schon mal hinnehmen, aber wenn man dann eine Stellung bekommt, bei der Weiß hauptsächlich noch auf der eigenen
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