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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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verhindertem Talent. An ihm ist ein normaler Mensch verlorengegangen, kein Genie.
    Eine zweite Hypothese sucht die Erklärung in Richtung der Kompensation. Savants haben ohne Ausnahme ein äußerst eingeschränktes Interesse. Manchmal ist es ein sinnliches Handicap, das sie auf einen Schlag von einem ganzen Informationsbereich abtrennt, manchmal ist es eine Störung wie Autismus, die sie in einer sorgfältig begrenzten Welt einschließt, in der sich am liebsten so wenig wie möglich verändert. Savants richten ihren >one track mind< auf die Entwicklung dieser einen Gabe. Sie werden nicht von sozialem Umgang und den Dutzenden von Tatsachen und Fertigkeiten, die man dafür kennen und beherrschen muß, abgelenkt. Sie halten ihre gesamte psychische Energie und Gedächtniskapazität frei für Kalender, Stadtpläne, Fahrpläne, Buchhaltungen über Freibiere und was sonst noch ihr eigenartiges Interesse zu wecken weiß. Dann wird geübt und wiederholt. Mit einer Konzentration, die auf den ersten Blick mit der gängigen Vorstellung von einem Schwachbegabten unvereinbar ist, entwickelt sich der Idiot zu einem Savant - in seiner einen speziellen Kunst. Der Sa-vant ist das Produkt aus Konzentration, Einseitigkeit und endloser Wiederholung.
    Michael Howe, der schon den Kalenderrechner Dave studierte, hat diese Kompensationshypothese auf die Funktion des Gedächtnisses zugespitzt. Bei Standardtests für das Gedächtnis machen Savants etwas mehr Punkte als bei Tests für andere Fertigkeiten, liegen aber deutlich niedriger als durchschnittliche Versuchspersonen. Wie kann es dann sein, daß endlose Listen von Kennzeichen, Seriennummern, Postleitzahlen, Bevölkerungsstatistiken und andere anscheinend bedeutungslose Daten doch in ihrem Gedächtnis landen? Ein Nichtsavant, der etwas in seinem Gedächtnis festlegen will - sagen wir, ein Gedicht -, benutzt dabei das Wissen seines eigenen Gedächtnisses. Er weiß, welche Strategien er anwenden muß, er lernt das Gedicht Strophe für Strophe, hört sich selbst ab, wiederholt. Aber diese Einsicht in die Funktion des eigenen Gedächtnisses (>Metagedächtnis<) ist keine notwendige Bedingung für das Auswendiglernen, argumentiert Howe, der entscheidende Faktor ist eher Aufmerksamkeit. Und es gibt keinen Zweifel daran, daß Savants für das Material, das sie speichern, ein intensives Interesse haben, ihm ausgesprochen konzentriert Aufmerksamkeit schenken und das auch sehr lange durchhalten. Die fehlerlose Speicherung des Materials ist eine natürliche Folge all dieser Aufmerksamkeit. Auch Nichtsavants, die eine Zeitlang ein intensives Interesse hegen - Flugzeuge, Automarken, Lokomotiven, viele Jungen haben so eine Phase, und die geht nicht immer vorüber -, können mit Leichtigkeit ungeheuer viele Daten speiehern. Worin der Savant abweicht, ist weniger, wie er behält, sondern vielmehr, was er zu behalten bereit ist.
    Die Frage ist also eher: Warum interessieren sich Savants für solche uninteressanten Dinge? Aber was wir interessant finden, hängt von unseren anderen Möglichkeiten ab. Wenn wir einen Kalender studieren, schweifen unsere Gedanken schnell ab zu spannenderen Themen. Manche Daten werden Erinnerungen an Geburtstage, Feste, Todestage, Urlaub aufrufen. All diese Assoziationen lenken uns von der kahlen Struktur des Kalenders ab. Wenn es darauf ankommt, die Aufmerksamkeit bei den Daten selbst zu halten, schreibt Howe, dann ist jemand mit einem »relativ schlicht ausgestatteten Geist« im Vorteil. Er vergleicht die Verfassung, in der sich der Savant befindet, mit Einzelhaft, eine Situation, in der sich auch normale Menschen dabei ertappen können, daß sie Interesse für die Anzahl der Steine in der Mauer entwickeln.
    Was die Hypothese von Aufmerksamkeit und Konzentration unaufgeklärt läßt, ist die Art des Savanttalents. In den Fertigkeiten von Savants liegt eine seltsame, paradoxe Spannung. Auf der einen Seite sind es oft die einzelnen, trivialen Fakten, die so beharrlich memoriert werden. In dieser Hinsicht ist ihr Gedächtnis außerordentlich selektiv. Savants behalten, wie Langdon Down schon schrieb, die oberflächlichen Fakten, nicht die Zusammenhänge und Kategorien. Auf der anderen Seite scheinen Savants Zugang zu den Regelmäßigkeiten zu haben, die unter der Oberfläche liegen, seien es nun die Einteilung eines Kalenders, die harmonischen Strukturen in einem Musikstück oder die Gesetze der Perspektive. Dieser Zugang scheint eine Fähigkeit zu erfordern, die beim

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