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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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gewonnen, aber die Damen können dann im Prinzip überall stehen, und das wäre schwierig zu behalten. Aber das ist mir in all den Blindsimultanspielen noch nie passiert.«
    Bei Schachspielern, die blind spielen, scheint die Fähigkeit, blind spielen zu können, mit dem Niveau zusammenzuhängen. Fast alle Großmeister können blind spielen, aber unter dem Niveau des Großmeisters und sicherlich dem des Meisters kann es fast niemand. Es ist also eine Gabe, die sich nicht gesondert entwickelt, sondern zum Talent und der Routine des Großmeisters gehört. Gilt das auch für Sie? Haben Sie das Blindspielen trainiert? Wie haben Sie entdeckt, daß Sie es können? »Einer meiner Gegner beim Blindsimultanspiel von Gouda war ein Jugendfreund von mir, Harry Kolk. Ich übernachtete oft bei ihm, und dann spielten wir bis spät abends in seinem Zimmer. Bis seine Mutter kam und sagte, wir sollten das Licht ausmachen. Aber wir waren mitten in einer Partie, und die beendeten wir dann, indem wir uns gegenseitig die Züge nannten. Ich habe es nie bewußt geübt. Als ich 16 war, spielte ich schon einmal blind gegen zehn Spieler, offensichtlich konnte ich das. Es scheint auch nicht dem Verschleiß ausgesetzt zu sein, jetzt, da ich älter werde. Das Simultanspiel dauert nur immer länger, aber das liegt daran, daß es mehr Teilnehmer sind.«
    Wer Sijbrands beobachtet, wie er zwanzig Partien aus dem Kopf spielt, fragt sich unwillkürlich, ob er vielleicht ein extrem gutes Gedächtnis hat. »Jaja, das denken die Leute oft. Ich glaube, ich habe zwar ein gutes Gedächtnis für die Dinge, die mich interessieren, wie Literatur oder Politik, aber mein Gedächtnis für die ganz alltäglichen Dinge ist katastrophal. Wenn die Frage heißt: Muß der große Blinddamespieler mit einem Einkaufszettel zum Gemüsehändler, dann lautet die Antwort: Ja. Mein Gedächtnis arbeitet außerordentlich selektiv.« Das zeigt sich. Sijbrands ist auch ein leidenschaftlicher Schachspieler und war mehrmals Meister seines Schachclubs. Aber mit dem Blindschachspielen hat er nichts am Hut: »Ich komme bis zu vier Zügen, weiter nicht. Danach fangen die Figuren an, mir vor den Augen zu tanzen, und ich gerate durcheinander.« Grinsend: »Kurzum, dieselben Erscheinungen wie bei Stümpern auf dem Damegebiet. Beim normalen Schachspielen komme ich übrigens auch nur vier oder fünf Züge weit.«
    Bei Schachspielern, die blind spielen, kursieren romantische Geschichten über die Nachwirkung einer so extremen Kraftanstrengung. Der argentinische Schachspieler Najdorf, der 1945 den Rekord auf 45 Partien brachte, konnte erst nach drei Tagen wieder schlafen, nachdem er völlig verzweifelt in ein Kino gegangen war. Auch Sijbrands spuken manche Partien noch tagelang durch den Kopf. »Bei einer der Partien hatte ich in Gedanken einen Stein
    verkehrt stehen. Das wurde ein paar Züge später klar, als mein Gegner eine Remiskombination machte. Aber die Partie ließ mich nicht los, die ersten 24 Stunden nach dem Simultanspiel habe ich gedacht, daß mich dieser Irrtum einen Punkt gekostet hat und daß ich eigentlich hätte gewinnen können. Am nächsten Tag saß ich auf der Tribüne bei Sparta-Ajax. Da rechnete ich das Endspiel noch einmal komplett durch und kam zum Schluß, daß es in jedem Fall Remis geworden wäre.« Sie können sich also ein Fußballspiel anschauen und unterdessen ein Endspiel analysieren? Der fanatische Ajax-Fan entschuldigt sich: »Ach ja, bei dem Spiel lohnte es sich wirklich nicht, zuzuschauen, unglaublich oft Ballverlust, sie gewannen zwar noch mit 2:1, aber man sah damals schon, daß es bei Ajax nicht gut lief.«
    Es gibt wenig Literatur darüber, wie man blind Dame spielt, dafür aber um so mehr, wie man blind Schach spielt. Das Interesse an der Psychologie des Blindschachspielens ist so alt wie die Psychologie selbst: Alfred Binet machte schon 1894 eine Studie über die Leistungen Pariser Blindschachspieler. Eine seiner

    Schachstellung und Sittenfelds Zeichnung seiner mentalen Vorstellung dieser Stellung
    Schlußfolgerungen gilt genauso gut für das Blinddamespiel: Es beruht nicht auf dem, was gemeinhin fotografisches Gedächtnis< heißt, als ob der Simultanspieler über eine wahrheitsgetreue Kopie verfügen würde, die er sich willkürlich vor Augen führen kann. Der Blindschachspieler Sittenfeld fertigte auf Binets Bitte
    hin eine Skizze dessen, >was er vor sich sah<, wenn er an eine Stellung dachte, und die erwies sich als eine ziemlich schematische und

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