Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
abstrakte Darstellung, eher ein Muster möglicher Bewegungen als ein statisches Bild.
Sijbrands ist mit Sittenfelds Zeichnung einverstanden: »Es ist sicher kein vollständiges und detailliertes visuelles Bild, was ich >sehe<, eher der relevante Teil der Position und das Muster der Bewegungen.« Ein allzu konkretes Bild wäre in vielerlei Hinsicht auch eher ein Handicap. Sijbrands weist darauf hin, daß jemand, der einfach hinter einem Brett sitzt und Dame spielt, sozusagen durch die Figuren hindurchschauen muß, um die zukünftigen Stellungen zu >sehen<. Ein allzu hartnäckiges Bild der gegenwärtigen Stellung ist dann ein Nachteil. Der Schachgroßmeister und Psychologe Reuben Fine bat bei einer Blindsimultanpartie einmal um ein leeres Brett, um die Positionen, die er vor seinem geistigen Auge sah, sozusagen darauf zu projizieren. Er hat es nie wieder benutzt, es erwies sich erst recht als Hindernis für sein Denken.
Binet machte für seine Schlußfolgerungen eine Anleihe bei einer Umfrage unter Blindspielern. Experimente haben nachträglich bestätigt, daß bei ihnen die Stellung nicht als fotografisches Bild gespeichert ist. Das illustriert ein Experiment, das die Psychologen (und Schachmeister) De Groot und Gobet erörtern. In diesem Versuch zeigte man einem Schachmeister zwei Positionen und bat ihn, diese zu behalten. Danach wurde das Brett entfernt. Anschließend fragte man, welche Figuren auf welchen Feldern standen. Im ersten Durchgang fragten sie erst nach einer Reihe von Feldern der ersten Position und dann nach einer Reihe von Feldern aus der zweiten Position. Im zweiten Durchgang fragten sie die Felder abwechselnd ab. Obwohl alle Antworten korrekt waren, erforderte der zweite Durchgang mehr Zeit. Offensichtlich saßen die memorierten Positionen nicht wie zwei fotografische Bilder im Gedächtnis, das Umschalten von der einen zur anderen Stellung nahm immer wieder zusätzliche Zeit in Anspruch. Eine noch viel schlichtere Widerlegung der Hypothese vom fotografischen Gedächtnis ist, daß eine Unsinnsaufstellung von Figuren viel schwieriger zu behalten ist als eine logische Stellung.
Spätere Untersuchungen haben bestätigt, daß Blindspielen eher eine räumliche als eine visuelle Leistung ist. In der Dame- und Schachwelt gibt es Beispiele von blinden Spielern, die Meisterniveau erreichten, und von Großmeistern, die blind wurden und ihr Niveau beibehielten. Der Psychologe Jongman hat in Het oog van de meester (1968) gezeigt, daß das >Bild< in einer Blindpartie keine Art von sinnlichem Nachbild ist, sondern eine erneute Visualisierung. Der Großmeister hat durch sein Niveau und seine sachverständige Prüfung so viele Assoziationen und Codes zur Verfügung, daß er die Position aus dem Gedächtnis rekonstruieren kann. Das wesentliche Element im Blindspiel ist das Muster der Stellung. Reuben Fine hat in einem introspektiven Bericht beschrieben, wie er beim Blindspielen zu Werke geht, und darin räumt er der Assoziation, die Figuren und Stellungen bei ihm auf-rufen, viel Platz ein. Darin spielt das Gedächtnis eine Schlüsselrolle.
Auch bei Sijbrands aktivieren die Positionen ein ganzes Netzwerk von Erinnerungen an frühere Partien, klassische Eröffnungen, Analysen von Endspielen und taktische Manöver. In seiner Zeitschrift Dämmen analysierte Sijbrands einige Partien aus dem Blindsimultanspiel, und darin kann man Kommentare lesen wie: »Diese Stellung hatte sich schon einmal in der Partie Wiersma -Sijbrands ergeben, Suikerturnier 1969« oder: »Indem er Feld 18 vom linken Flügel her auffüllt, läßt Ijssel die Zeiten von Koeper-man und - vor allem - Pieter Bergsma wieder aufleben.« Über die Partie gegen Schep vermeldet Sijbrands sogar, daß das Thema anschloß bei »der Simultanpartie Sijbrands - H. Voorburg 1995, der bei der 15. Spielpartie Deslauriers - Koeperman um die WM 1958 so nachdrücklich um die Ecke schaute«. Das sind Stück für Stück alles Verweise auf Muster. Stellungen aktivieren bei Sijbrands ein feinmaschiges Netzwerk von Assoziationen. Durch all diese Assoziationen ist die Position auf dem Brett fest im Gedächtnis verankert.
Jongman hat die Gabe des Blindspielens >Epiphänomen< genannt, eine Begleiterscheinung. Es gehört zum Niveau des Großmeisters. Es entwickelt sich von selbst, ohne spezielles Training.
Aber neben dem Großmeisterniveau gibt es noch eine zweite Bedingung. Eine Leistung wie die Sijbrands ist nur möglich dank eines lebenslänglichen Studiums des Damespiels.
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