Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Zeugen, die bereits in den vierziger Jahren eine Aussage gemacht hatten, erneut verhört. Das gab Wagenaar und Groeneweg die Möglichkeit, Aussagen nach vierzig Jahren mit den Protokollen zu vergleichen, die unmittelbar nach den Ereignissen aufgesetzt worden waren. Die Diskrepanzen geben über die Zuverlässigkeit von Erinnerungen nach einem so langen Zeitraum wirklich zu denken.
Es gab Verwaltungsakten über das Datum, an dem die Delinquenten ins Lager gekommen waren. In den Verhören aus den vierziger Jahren erinnerten sich nur zwei der elf Zeugen an ein Datum, das mehr als einen Monat vom wirklichen Datum abwich. Vierzig Jahre später waren es elf von 19. Einige Zeugen lagen um mehr als ein halbes Jahr daneben, was bedeutet, daß sie sich an ihre Ankunft in einer total anderen Jahreszeit erinnerten. Menschen, die von De Rijke mißhandelt worden waren - und in diesem Sinn direkt mit ihm zu tun gehabt hatten -, erkannten ihn auf einem Foto aus der Lagerzeit offensichtlich nicht besser als Menschen, die er nicht mißhandelt hatte. 20 Zeugen erklärten, De Rijke habe im Lager eine Uniform getragen, 28 Zeugen sagten, er sei in Zivil herumgelaufen. Elf Zeugen sagten aus, er habe Gefangene mit einer Peitsche mißhandelt, eine ebenso große Anzahl sagte, er habe nie eine Peitsche oder sonstige Hilfsmittel benutzt. Von den ehemaligen Gefangenen, die nicht zuvor das Fernsehprogramm über De Rijke gesehen hatten, erkannten ihn nur 58 Prozent auf dem Foto aus der Lagerzeit. Auch Erinnerungen an Ereignisse, von denen man annehmen sollte, daß sie im Gedächtnis eingraviert wären, erwiesen sich manchmal als ungenau. Ein Zeuge V. hatte gesehen, wie De Rijke und ein anderer Wachmann einen Mitgefangenen totschlugen; 1984 hatte er die Namen beider Wachmänner vergessen, und es stellte sich heraus, daß er bei einem anderen Mißhandlungsfall offensichtlich Täter und Opfer verwechselt hatte. Zeuge Van der M. war so ernsthaft von De Rijke mißhandelt worden, daß er ein paar Tage lang nicht laufen konnte; 1984 erinnerte er sich nur noch, daß er ab und zu eine Ohrfeige bekommen hatte. Zeuge Van de W. war auch mißhandelt worden, erinnerte sich aber an De Rijke als >De Bruin< und hatte die Mißhandlung vergessen. Zeuge S. erklärte 1943, de Rijke und ein anderer Wachmann hätten einen Gefangenen in einem Wasserbehälter ertränkt; 1984 hatte er nicht nur die Erträn-kung vergessen, sondern leugnete auch, jemals so etwas erklärt zu haben.
Obwohl sich auch viele Erinnerungen als genau erwiesen und demnach länger als vierzig Jahre intakt im Gedächtnis gespeichert liegen können, ist das Problem klar: Es gibt kein Kriterium, nach dem beschlossen werden kann, welche Erklärung man als wahr akzeptiert. In der Sache Demjanjuk hat sich ein ähnliches Problem gezeigt. Einer der Belastungszeugen, Elijahu Rosenberg, hatte 1947 auf der Durchreise nach Israel in Wien eine Aussage gemacht. Er gab an, Iwan sei bei dem Aufstand von 1943 getötet worden. Einige Gefangene seien in die Baracken eingedrungen und hätten die ukrainischen Wachmänner, die dort schliefen, mit Spaten totgeschlagen. (Wegen der extremen Hitze waren Frühschichten eingeführt worden.) Während des Prozesses in Jerusalem erklärte er, die Person, die ihn in Wien befragt hatte, habe ihn falsch verstanden: er meinte, die anderen hätten ihm erzählt, Iwan sei getötet worden. Aber nicht viel später tauchte eine von Rosenberg selbst geschriebene Erklärung aus dem Jahre 1944 auf, in der er beschrieb, wie er den Tod Iwans selbst wahrgenommen hatte. Wem sollte man denn nun glauben: dem Rosenberg von 1944, dem von 1947 oder dem von 1987?
Es gibt mehr Gründe, die Unfehlbarkeit von traumatischen Erinnerungen zu relativieren. 1978 wurde Frank Walus wegen Kriegsverbrechen im polnischen Städtchen Czfstochowa angeklagt. Walus sollte Mitglied der SS und der Gestapo gewesen sein. Nach dem Krieg hatte er sich unter dem Namen Wallace in Amerika niedergelassen. Nicht weniger als elf Augenzeugen erkannten ihn. Einer von ihnen, David Gelbhauer, war zur Zwangsarbeit im Gestapo-Hauptquartier in Cz§stochowa eingesetzt und hatte Walus rund drei Jahre lang fast täglich erlebt. Gelbhauer war Zeuge von Folter, Mißhandlung und Mord gewesen. Ein anderer Zeuge erklärte, Frank Walus sei in ihr Haus eingedrungen und habe seinen Vater mißhandelt. Nachbarn hätten gesagt, er heiße Frank Walus. Nach noch einer Reihe von Zeugenaussagen, alle in gleicher Bestimmtheit, entzog man Walus die
Weitere Kostenlose Bücher