Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
wieder in seiner Zelle.
Trauma und Erinnerung
Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim (1903-1990) war, noch vor dem Krieg, ein Jahr in Buchenwald und Dachau inhaftiert. Nach seiner Freilassung im Jahre 1939 emigrierte er in die Vereinigten Staaten. Dort notierte er seine Erinnerungen an die Lager. Er ließ seine Aufzeichnungen fast drei Jahre lang liegen, um ausreichend Distanz zu bekommen, und veröffentlichte dann 1943 eine psychologische Analyse des menschlichen Handelns und Erlebens unter den extremen Bedingungen eines Konzentrationslagers. Sich selbst zu beobachten, seine Mitgefangenen und die SS-Leute, die sie bewachten, war für ihn ein Mittel, sein seelisches Gleichgewicht zu wahren, erläuterte er in der Einleitung, ein Schutz gegen das Auseinanderfallen der Persönlichkeit.
Im Lager gab es keinerlei Möglichkeit, Aufzeichnungen zu machen oder aufzubewahren. Also mußte man alles behalten. Aber Bettelheim merkte, daß »äußerste Unterernährung und andere Faktoren, die das Gedächtnis beeinträchtigen«, diese Bemühungen sehr erschwerten. »Eine große Rolle spielte dabei auch der Gedanke, >es hat ja doch keinen Zweck, du kommst nie lebendig hier heraus<, der einen nie verließ und täglich durch den Tod von Mithäftlingen neue Nahrung erhielt.« Etwas wirklich zu behalten gelang ihm nur dadurch, daß er es innerlich immer wiederholte und bei der Arbeit noch einmal darüber nachdachte. Nach seiner Emigration, als er sich sicher fühlte, kam vieles dessen, was vergessen schien, wieder zurück. Aber es ist deutlich, daß die Bedingungen des Lagers einen nachteiligen Einfluß auf das Gedächtnis hatten: was zuvor automatisch und von Natur aus ging, verlangte nun eine bewußte Anstrengung.
Eigentlich lag das Problem noch tiefer. Auch die Wahrnehmung - beobachten und sich gut umschauen - hatte unter diesen Bedingungen ihre Selbstverständlichkeit verloren. Die erste Bedingung, das Lager lebend wieder zu verlassen, war: nicht auffallen. Wer aus welchem Grund auch immer auffiel und die Aufmerksamkeit auf sich zog, lief Gefahr, mißhandelt oder getötet zu werden. Aus diesem Gebot, um keinen Preis aufzufallen, folgte ein zweites Gebot: nicht schauen. Ein Gefangener, der bei einer Mißhandlung durch einen SS-Mann zuschauen würde, spielte mit seinem Leben. Selbst die passive Befolgung des Gebots, nichts zu sehen, reichte nicht aus, schrieb Bettelheim, sicherer war es, aktiv zu zeigen, daß man nichts bemerkte. Er bringt das Beispiel eines SS-Mannes, der einen Gefangenen verprügelte.
»Aber mitten in diesem Wüten konnte er dann einer vorbeikommenden Arbeitskolonne ein freundliches >Gut gemacht« Zu rufen. Diese Arbeitskolonne, die zufällig aufgetaucht war, fing dann an, mit abgewandten Gesichtern zu laufen, um den Schauplatz so schnell wie möglich zu passieren, ohne etwas zu bemerken. Die Tatsache, daß sie plötzlich zu laufen begannen und ihre Gesichter abkehrten, zeigte offensichtlich, daß sie etwas >bemerkt< hatten. Doch dies machte nichts, solange sie deutlich zeigten, daß sie sich dem Befehl unterworfen hatten, das nicht zu wissen, was sie nicht wissen sollten.«
Die Situation hat eine perverse Logik: um zu wissen, was man nicht sehen darf, muß man schauen, und um zu wissen, was man Vortäuschen soll, muß man wissen, was man gesehen hat. Das nichts Sehen und nichts Wissen paßte Bettelheim zufolge in die Absicht der SS, die Persönlichkeit der Gefangenen zu brechen. Wissen, was einem ein anderer zu wissen zugesteht, ist der Zustand eines Kindes. Selbst wahrnehmen und darauf das eigene Handeln abstimmen ist der Beginn eines unabhängigen Lebens. Nicht wahrnehmen, während es gerade von höchster Bedeutung ist, gut wahrzunehmen, ist destruktiv für die Persönlichkeit eines Menschen.
Hs gab noch einen zweiten Grund, weshalb man versuchte >nicht wahrzunehmen«. Wer eine Mißhandlung sah und so von Emotionen mitgerissen wurde, daß er zu Hilfe eilte, wurde ganz sicher getötet.
»Das Bewußtsein, daß eine solche emotionelle Reaktion auf das, was man sah, einem Selbstmord gleichkam, und die Unfähigkeit, manchmal nicht emotionell zu reagieren, wenn man sah, was vorging, ließen nur einen Ausweg: nichts wahrzunehmen, um nicht zu reagieren. Es mußten also beide Fähigkeiten, die des Wahrnehmens und die des Reagierens, freiwillig als ein Akt der Selbsterhaltung blockiert werden. Wenn man aber aufgibt, etwas wahrzunehmen, zu reagieren und zu handeln, dann hört man auf, sein eigenes Leben zu leben. Und
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