Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
genau das wollte die SS.«
Auf Probleme mit dem, was im normalen Leben so selbstverständliche Funktionen wie Wahrnehmen und Behalten sind, wiesen auch andere Überlebende von Konzentrations- und Vernichtungslagern in. ln Sun turned to darkness (1998) schreibt Patterson, daß zu all dem, was ausgerottet und vernichtet wurde, auch das Gedächtnis selbst gehörte: eine Menge Menschen, die in einem Konzentrationslager gewesen waren, beklagten sich über ein mangelhaftes Gedächtnis. Im Rückblick auf ihren Aufenthalt in Auschwitz schrieb Fania Fenelon, daß es ihr immer schlechter gelang, Kindern Geschichten zu erzählen, und daß es den Kindern auch immer weniger auffiel, daß ihr Gedächtnis nachließ. Olga Lengyel, auch eine Überlebende von Auschwitz, bemerkte den geistigen Rückschritt bei sich selbst und anderen vor allem durch die Verschlechterung des Gedächtnisses. Die andauernde Lebensgefahr, ständig auf die unmittelbare Bedrohung bedacht sein, die Erschöpfung, aber auch der Mangel an Nahrung und Vitamin B und die damit verbundene Benommenheit, griffen das Gedächtnis an und schlugen Lücken in die Erinnerung.
Auch die Wiedererkennung war zerrüttet. Der niederländische Arzt Elie Cohen war nach Auschwitz deportiert worden, wo er die Aufgabe bekommen hatte, Gefangene zu mustern. Manchmal konnte er sie vorläufig vor der Gaskammer retten, indem er sie für krank erklärte. 1971 erschienen seine Erinnerungen an die Kriegsjahre unter dem Titel De afgrond (Der Abgrund). In Auschwitz kam plötzlich jemand auf ihn zu und sagte:
»>Elie, du mußt mich retten, du mußt mich retten! Sie bringen mich auf die Durchfallstation, und das ist die Gaskammer. Du mußt mich retten !< Ich sagte zu ihm: >Aber wer bist du denn, um Himmelswillen ?< >Ich bin ]o Wolf aus der Folkingestraat.< Er hatte vier Häuser von mir entfernt gewohnt, wir kannten einander wahnsinnig gut. Man erkannte die Menschen einfach nicht. Ich würde auch nicht in einem Prozeß gegen SS-Leute aussagen können. Wenn man mich fragen würde: >Zeigen Sie nun auf diejenigen, die sie erkennen« - ich könnte es nicht, ich würde niemanden erkennen. Es ist so schrecklich verändert. So wie sich in diesem einen Lager die Juden durch ihren körperlichen Zustand so schnell veränderten, so würde ich auch diese SS-Leute nicht mehr erkennen.«
Was kann ein Psychologe, ausgebildet in den experimentellen Traditionen seines Fachs, gewöhnt an klar beschriebene Reize und Kontrollgruppen, über das Erinnern, Erkennen und Identifizieren unter derartig extremen Umständen Vorbringen? Die ehrliche Antwort muß lauten: Nicht sehr viel mehr als gar nichts. Die Psychologie kennt keine systematische Analyse der Zuverlässigkeit des Gedächtnisses unter den traumatisierenden Umständen eines Vernichtungslagers. Aber die wenigen Erkenntnisse, die in Situationen gesammelt wurden, die zumindest Ähnlichkeit mit lebensbedrohenden Umständen haben, suggerieren, daß selbst sehr intensive und emotionale Erinnerungen der verzerrten Darstellung unterworfen sein können. Ein gut dokumentierter Hinweis darauf ist die Studie, die Wagenaar und Groeneweg nach Zeugenaussagen in der Sache De Rijke durchgeführt haben.
Marinus De Rijke arbeitete zwischen 1942 und 1943 als Oberkapo im Lager Erika in Ommen. Das war ein Straflager für niederländische Delinquenten, aber dort herrschte ein Regime, das dem in deutschen Lagern ähnelte: im Tausch für Privilegien bekamen bestimmte Gefangene die Aufgabe, die Disziplin unter ihren Mitgefangenen aufrechtzuerhalten. Manche Gefangene wurden zu Tode mißhandelt. De Rijke war einer der berüchtigsten Wachmänner. Als die niederländischen Behörden 1943 entdeckten, was dort los war, wurde das Lager geschlossen. Die Gefangenen hatten während der Kriegsjahre unter äußerst schwierigen Umständen gelebt. Eine Gruppe von tausend Gefangenen war nach Deutschland gebracht worden, um Zwangsarbeit zu verrichten, nur vierhundert kehrten lebend ins Lager Erika zurück, zu krank und zu erschöpft, um zu arbeiten. Von diesen vierhundert starben noch viele im Lager. Nach der Schließung nahm die Polizei zwischen 1943 und 1948 Aussagen von Überlebenden auf. De Rijke entkam damals der Verurteilung. 1984 beschloß man, ihn nachträglich zu verfolgen. Nach einem Aufruf in einem Fernsehprogramm, das sich mit De Rijke beschäftigte, meldeten sich mehrere Zeugen. Der Richter urteilte letztendlich, daß die Mißhandlungen verjährt seien. Während des Prozesses wurden 15
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