Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Uriah Heep allein, der das Gespräch auf Agnes lenkt. Zu seinem Entsetzen bekommt er zu hören, daß Heep Agnes schon seit Jahren heimlich verehrt: »Oh, Master Copperfield, mit welch reiner Leidenschaft liebe ich den Boden, auf den meine Agnes tritt!« David versucht sich nichts anmerken zu lassen, aber tief im Innern zittert er vor Abscheu: »Er schien vor meinen Augen anzuschwellen, zu wachsen, das Zimmer schien erfüllt vom Widerhall seiner Stimme, und das seltsame Gefühl (das wohl niemandem fremd ist) bemächtigte sich meiner, daß dies alles schon einmal, vor unbestimmter Zeit schon einmal geschehen wäre und ich genau wüßte, was er nun sagen würde.« Beim zweiten Mal ist es ein Freund von David, der redegewandte Herr Micawber, der dieselbe Erfahrung auslöst, als er in aller Arglosigkeit über Dora und Agnes spricht: »Hätten Sie uns an jenem angenehmen Nachmittag, den wir zusammen zu verbringen das Vergnügen hatten, nicht verraten, daß D Ihr Lieblingsbuchstabe sei, Mr. Copperfield, fraglos hätte ich geglaubt, daß A es wäre.« David grübelt: »Wir alle kennen ein Gefühl, das uns gelegentlich überrascht, als ob wir das, was wir sagen und tun, schon vor langer Zeit gesagt und getan hätten - als ob wir in ferner Vergangenheit dieselben Gesichter, dieselben Gegenstände und Verhältnisse um uns gesehen hätten - als ob wir ganz genau wüßten, was im nächsten Augenblick gesagt werden wird, wie wenn wir uns dessen plötzlich erinnerten! Nie hatte ich diese geheimnisvolle Empfindung stärker gefühlt als gerade jetzt bei Mr. Micawbers Worten.«
Zu behaupten, David habe ein Dejä-vu-Erlebnis gehabt, ist ein Anachronismus, denn der Begriff existierte noch nicht, als Dik-kens 1850 David Copperfield veröffentlichte. Aber die Erfahrung selbst gab es zu allen Zeiten: Augustinus schrieb schon im fünften Jahrhundert über >falsae memoriae< und wie die Pythagoräer darin, noch tausend Jahre früher, einen Beweis für die Seelenwanderung sahen. Daß jeder schon mal ein Dejä-vu-Erlebnis gehabt haben sollte, wie Dickens behauptete, ist trotzdem nicht wahr. In Fragebogenstudien geben zwischen einem Drittel und der Hälfte der Befragten an, noch nie eine Dejä-vu-Empfindung gehabt zu haben. Wer sie jedoch aus eigener Erfahrung kennt, weiß, daß Dickens' Beschreibung exakt ist. Dejä-vu-Erlebnisse beginnen plötzlich. Das Gefühl der Wiedererkennung ist von einem Augenblick zum anderen da, ohne Zunahme oder Übergang. Von diesem Moment an fühlt sich alles an, als habe man es schon einmal erlebt, die Dinge um einen herum, die Geräusche, die Gesichter, die Gespräche; selbst die eigenen Gedanken scheint man schon einmal genau so gedacht zu haben. Es ist, als würde man einen Bruchteil des eigenen Lebens erneut leben, auch wenn man nicht sagen könnte, wann dann das erste Mal gewesen sein sollte.
Die Vertrautheit geht so weit, daß man auch zu wissen glaubt, was gleich geschehen wird. Aber dieses Wissen ist passiv, es hat viel Ähnlichkeit damit, daß man die Wendungen in einem Buch erahnt, das man nach langer Zeit noch einmal liest: erst wenn man wirklich bei dem betreffenden Abschnitt angelangt ist, weiß man es wieder genau. Ein Wort, das einem auf der Zungenspitze liegt, hat dieselbe Eigenschaft: man kann es nicht sagen, aber man erkennt es später unmittelbar als das gesuchte Wort. Oder man kommt in ein früher einmal vertrautes Haus zurück und sagt sich: »Hinter dieser Tür war, äh, mal kurz nachsehen, genau!, der Schrank.«
Der Eindruck, daß einem jene wenigen Sekunden der Zukunft jetzt schon bekannt sind, geht oft mit einem Gefühl der Beklemmung einher, in der französischen Literatur über Dejä-vu-Erlebnisse oft beschrieben als >un sentiment peniblem Diese ungewisse Bedrohung schwebt irgendwo zwischen leichter Verwunderung und regelrechter Angst, es ist schwierig herauszufinden, ob dieses Gefühl zu dem Dejä-vu-Erlebnis gehört oder gerade erst dadurch verursacht wird. Schließlich hebt einen ein Dejä-vu-Erlebnis unerwartet aus der reibungslosen Spur der normalen Assoziationen, und diese kurze Störung kann eine beunruhigende Erfahrung sein.
Dejä-vu-Erlebnisse werden fast immer als flüchtig erfahren. Sie werden schnell zerstört, manchmal durch die Verwunderung über die Erfahrung selbst. Was William James einmal über Innenschau schrieb - es erinnert einen an schnelles Lichteinschalten, um zu schauen, wie das Dunkel aussieht-, gilt auch für das Beobachten der eigenen Dejä-vu-Erfahrungen:
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