Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
es ist, als würde die plötzliche Konzentration auf dessen Eigenartigkeit schon ausreichen, ihm ein Ende zu bereiten. Die meisten Dejä-vu-Erlebnisse dauern höchstens ein paar Sekunden, danach löst sich das Gefühl von Vertrautheit und Wiederholung auf. Die Verwirrung über das, was man gerade erlebt hat, hält noch einen Moment an, und dann nimmt das normale Leben wieder seinen Lauf. Die geheimnisvolle Verdoppelung dessen, was man sieht, hört und denkt, ist verschwunden.
Für das, was Dickens noch unbenannt ließ und was heute Dejä-vu-Erlebnis heißt, kamen in dem halben Jahrhundert nach David Copperfield so etwa zwanzig Namen in Umlauf. In der französischen Literatur treten Bezeichnungen auf, die jene Erfahrung mit einem Irrtum des Gedächtnisses verbanden, wie >fausse memoire<, >Paramnäsie< und >fausse reconnaissance<. Deutsche Ärzte und Psychiater schienen vor allem vom verdoppelnden Charakter eines Dejä-vu-Erlebnisses berührt zu sein: >Empfindungsspiege-lung<, >Doppelwahrnehmung< und >Doppelvorstellung<. Der Philosoph und Psychologe Ebbinghaus hat - vergebens - versucht, den Begriff >Bewußtsein des Schondagewesenseins< einzuführen. Die wissenschaftliche Gemeinde hat sich nach 1896 von dem französischen Arzt Arnaud überzeugen lassen, der in einer Vorlesung für die Pariser Societe Medico-Psychologique argumentierte, ein Fachbegriff solle die Erklärung besser nicht vorwegnehmen und verdiene daher eine neutrale Kennzeichnung. Sein Vorschlag, >Dejä-vu-Erlebnis<, setzte sich durch, auch wenn besonders Hausse memoire< noch lange Zeit Widerstand gegen diese stille Sanierung leistete.
Dem gebildeten Menschen des 19. Jahrhunderts konnten an den unterschiedlichsten Orten Betrachtungen über Dejä-vu-Erlebnisse begegnen: in Büchern über das Gedächtnis, in psychiatrischen Fallbeschreibungen, neurologischen Fachzeitschriften und medizinischen Handbüchern, aber auch in Gedichten und Romanen. Zur wissenschaftlichen Literatur trugen vor allem Ärzte und Psychiater bei. Ihre Erläuterungen hatten einen klinischen Einschlag, sie stammten aus Erfahrungen mit Patienten. Die Unterstützung der Erklärungen beschränkte sich häufig auf die wenigen Fälle, denen der Arzt in seiner Praxis oder in einer Einrichtung für Geisteskranke begegnet war. 1898 versuchte Eugene Bernard-Leroy - der im Pariser Krankenhaus der Salpetrie-re zum Arzt ausgebildet worden war - etwas mehr System in die Untersuchungen zu bringen. Er sammelte, was bis dahin an Fallbeschreibungen erschienen war, und erstellte einen Fragebogen, den er zu Tausenden unter Bekannten, Kollegen und den Lesern von Fachzeitschriften verteilte.
Manche Fragen dienten dazu, das Auftreten von Dejä-vu-Er-lebnissen in Zusammenhang mit Geschlecht, Alter oder der Qualität des Gedächtnisses zu bringen. Andere Fragen drehten sich um die geschätzte Dauer, die begleitenden Gefühle und die Genauigkeit des Gefühls, Voraussagen zu können, was in den nächsten Minuten geschehen würde. Er bekam 67 ausgefüllte Fragebögen zurück, von denen er knapp fünfzig nahezu unbearbeitet in seine Dissertation L'illusion de fausse reconnaisance übernahm. Diese geringe Anzahl verhinderte die statistische Analyse. Ber-nard-Leroy beschränkte sich auf eine zusammenfassende Übersicht zu >Tendenzen< in seinem Material. So sollten Dejä-vu-Erlebnisse relativ oft während der Jugendjahre Vorkommen. Für einen Zusammenhang mit Epilepsie, Müdigkeit und Spannung, suggeriert durch frühere Autoren, fand er keine Bestätigung, genauso wenig wie für einen Bezug zu Geschlecht, Rasse oder sozialem Status. Die Ergebnisse der tausendfach verbreiteten Umfrage brachten wenig Neues zum Vorschein. Über die Entstehung von Dejä-vu-Erlebnissen tappte man auch nach Auffassung von Bernard-Leroy selbst völlig im dunkeln.
Damit ist nicht gesagt, daß es an Erklärungen mangelte, fast im Gegenteil.
»Ein Seelenleben von früher, vor Jahrhunderten«
Der englische Arzt Wigan beschrieb die Erfahrung eines Dejä-vu-Erlebnisses 1844 als >sentiment of pre-existence<, und viele Dichter und Schriftsteller haben darauf angespielt, daß damit gleichzeitig die Erklärung gegeben sei. Ein paar Jahre bevor er David Copperfield schrieb, machte Dickens eine Reise durch Italien. In seinem Reisebericht erzählt er, eines Abends habe er die Pferde anhalten lassen, damit sie sich ausruhen konnten, und sei allein weiterspaziert. Nach einiger Zeit kam er an eine Stelle, die ihm auf einmal vollkommen vertraut vorkam:
Weitere Kostenlose Bücher