Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Arztpraxis, hatte er all sein Beweismaterial, seine Beobachtungen und Fallstudien in einer neurologischen Monographie,
The duality of the mind, gesammelt. Über unser Gehirn, so das Thema, denken wir zu Unrecht in Begriffen von zwei Hälften. Selbst >Hemisphä-ren<, Halbrunde, ist irreführend, denn zusammen bilden die beiden Hemispären noch nicht die Hälfte einer echten Kugel. In Wirklichkeit tragen wir unter unserer Schädeldecke zwei Gehirne, zwei getrennte Organe, in demselben Sinn, wie wir zwei Augen haben. Jedes der beiden Gehirne hat ein selbständiges bewußtes Leben, mit eigenen Gedan- Gravur einer geschrumpften und ken, Wahrnehmungen und Emo- einer intakten Hirnhälfte tj oneri , auch wenn eines meistens
dominant und das andere untergeordnet ist. Der Hirnbalken, das Gewebeband, das tief unten im Gehirn beide Organe verbindet, ist unwichtig, eher eine Barriere als eine Brücke. Daß in den Annalen der Neurologie unzählige Fälle aufgezeichnet sind von Menschen, denen durch Krankheit oder Verletzungen eine komplette Hirnhälfte fehlte und die dennoch dieselbe Person blieben, ist schon ein entscheidender Beweis dafür, daß jedes der beiden Organe das Substrat unserer geistigen Fähigkeiten bilden kann. Wigan verwies dankbar auf Cruveilhier, den großen Pariser Pathologen und Anatomen, der in seine Anatomie pathologique du corps humain von 1835 Abbildungen von Gehirnen aufgenommen hatte, bei denen die eine Hemisphäre auf die Hälfte ihres üblichen Umfangs geschrumpft war und sich die intakte Hemisphäre als ausreichend für ein normales Leben erwies. Wenn beide Organe auf denselben Gegenstand gerichtet sind, entsteht eine starke Konzentration. Umgekehrt versetzt uns die doppelte Ausführung auch in die Lage, ein Organ ruhen zu lassen, während das andere arbeitet. Bei Erschöpfung wird oft nur ein Organ aktiv sein. Hierin verbarg sich nach Wigan die Erklärung für das, was ihm in der Kapelle von St. George widerfahren war. In dem Moment kurz vor seinem Dejä-vu-Erlebnis sei lediglich eines der beiden Gehirne aktiv gewesen, so daß damals nur eine relativ schwache sinnliche Wahrnehmung vorhanden war. Als im nächsten Moment durch den unerwarteten Schrei auch das zweite erwachte, ergab dieselbe Szene auf einmal ein viel schärferes Bild. Sein Bewußtsein interpretierte das scharfe Bild als das heutige und das nahezu identische, aber vage Bild als ein unbestimmtes früheres. Kein Wunder, daß in einem Dejä-vu-Erlebnis alles so bekannt scheint: in Wirklichkeit liegen höchstens ein paar Sekunden zwischen beiden Bildern. Kein Wunder auch, daß sich ein Dejä-vu-Erlebnis wie ein zweites Mal anfühlt: wir haben nun einmal zwei Gehirne, keine drei.
Wigans Theorie wurde von späteren Autoren manchmal noch eine Spur anschaulicher dargestellt. Die Hemisphären seien abwechselnd >eingeschaltet<. Unter normalen Umständen ist der Wechsel zwischen links und rechts genau koordiniert, so daß unsere sinnliche Erfahrung wie ein ununterbrochenes Ganzes verarbeitet wird. Aber wenn die eine Hirnhälfte schon aktiv wird, während die zweite noch nicht ausgeschaltet ist, entsteht eine Art >Doppelbild<: durch das gegenwärtige Bild schimmert noch das abklingende Bild der anderen Hemisphäre, so daß es scheint, als würden wir etwas zum zweiten Mal erleben. Diese Hypothese ist nicht mehr die von Wigan. Die Analogie mit dem Doppelsehen wurde erst 1868 eingeführt, und zwar durch den deutschen Neurologen Jensen. Seiner Meinung nach verarbeitet jede Hemisphäre ihren eigenen Bilderstrom, und unser Bewußtsein paßt diese so genau einander an, daß nur ein Bild dazusein scheint. Wenn die Integration aus welchem Grund auch immer nicht gelingt, entsteht ein Doppelbild, das für eine Wiederholung gehalten wird.
Die Theorien von Wigan und Jensen galten schon zu Zeiten von Bernard-Leroy als überholt. Es gab keinen einzigen neurologischen Beweis, daß Hemisphären zeitweise >ausgeschaltet< sein konnten oder daß unser Gehirn alles zweifach, links und rechts, verarbeitet. Aber der Gedanke eines zeitweiligen Doppelbildes war auch ohne Neuroanatomie ausgesprochen verlockend. 1878
fragte sich der deutsche Psychiater Anjel als erster, ob ein Dejä-vu-Erlebnis nicht durch eine äußerst kurze Störung in der Verarbeitung sinnlicher Reize entstehen könnte. Wahrnehmung setzt voraus, daß Der Philosoph und Psychologe Gerard Heymans . ,
(1857-1930), ohne Jahr wir unsere sinnlichen Empfindungen zu einer zusammenhängenden Vorstellung in
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