Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Ähnlichkeit mit etwas gibt, was wir wirklich früher schon einmal erlebt haben? Daß ein Dejä-vu-Erlebnis genau das ist, was der Name suggeriert, etwas sehen, was man vorher schon einmal gesehen hat? William James fand das Mysterium und die Spekulation um Dejä-vu-Erlebnisse übertrieben; es war ihm bei seinen eigenen Dejä-vu-Er-lebnissen immer wieder gelungen, das Gefühl von Vertrautheit auf eine wirkliche Erinnerung zurückzuführen. Wir sind uns erst nur der Übereinstimmungen mit jener früheren Situation bewußt, erklärte er, so daß ein vages Gefühl von >früher< entsteht. Aber wenn wir uns anstrengen, sehen wir auch immer mehr Unterschiede, und während so die ursprüngliche Erinnerung immer vollständiger wird, ebbt das Gefühl von Vertrautheit allmählich ab. Diese Erklärung wird von vielen Autoren angeführt. Wenn jemand zum ersten Mal in seinem Leben in Lyon ist und bei einem Reiterstandbild ein Dejä-vu-Erlebnis hat, könnte die Erklärung sein, daß er früher schon mal ein ähnliches Bild gesehen hat, eine Replik in einem Museum, eine Abbildung in einem Kunstbuch. Auch wenn er sich absolut nicht klar darüber wird, bei welcher Gelegenheit das gewesen ist, könnte die teilweise Ähnlichkeit schon das Gefühl der Wiederholung andeuten - was es dann in gewissem Sinn auch ist.
Die Hypothese, daß Dejä-vu-Erlebnisse durch teilweise Übereinstimmung mit früheren Erfahrungen entstehen, hat auch eine psychoanalytische Variante. Der Schweizer Pastor und Analytiker Oskar Pfister besprach 1930 den Fall eines jungen Offiziers, der während des Ersten Weltkriegs durch einen Volltreffer in akute Lebensgefahr geraten war. Eine Granate hatte schon seinen Kameraden im Schützengraben getötet, er selbst war auf den Boden geschmettert worden. Er war davon überzeugt, tödlich getroffen zu sein. Wenn er an die ersten Augenblicke nach dem Einschlag dachte, erinnerte er sich an das Gefühl eines tiefen Sturzes, verbunden mit einem Dejä-vu-Erlebnis: »So bist du schon einmal gefallen.« Er erzählte Pfister, daß dieses Dejä-vu-Erlebnis seiner Meinung nach auf das eine Mal verwies, als er als neunjähriger Nichtschwimmer ins Wasser gesprungen war und sich mit Müh und Not retten konnte. Die Deutung Pfisters verlief entlang freu-dianischer Linien. Bei der Entstehung des Dejä-vu-Erlebnisses mußte das Unbewußte die Hand im Spiel gehabt haben. Es suchte im Gedächtnis des Mannes blitzschnell eine Parallele, die über eine durchschaubare Analogieargumentation - du warst damals in Gefahr, und das hast du überlebt, auch jetzt wirst du da lebend wieder rauskommen - in diesem Augenblick der Todesnot Trost bieten sollte. Dejä-vu-Erlebnisse gehören zum Arsenal der Abwehrmechanismen, die uns zur Verfügung stehen: sie verdoppeln die Lebensgefahr um der Beruhigung willen, daß es beim ersten Mal nicht tödlich war.
Genau wie William James glaubte Pfister also, daß Dejä-vu-Erlebnisse auf etwas zurückzuführen sind, was wirklich schon im Gedächtnis vorhanden ist, mit dem Unterschied, daß sie James zufolge mehr oder weniger zufällig entstehen und nach Pfister eine Funktion haben. Die Übereinstimmung mit früheren Erfahrungen ist nicht die Ursache eines Dejä-vu-Erlebnisses, sondern gerade sein wirksamer Bestandteil. Daß man sich für diese letzte Interpretation keiner Lehranalyse unterziehen muß, beweist Kees van Kooten in der Geschichte »Meine Tour de France«, dem Bericht seiner Abenteuer auf dem Rennrad. Wegen blockierender Bremsen fliegt er über den Lenker: »Noch während des Flugs bekam ich ein Dejä-vu-Erlebnis (ich habe dies alles schon einmal mitgemacht, und damals muß es auch gut ausgegangen sein, denn sonst könnte ich dieses Dejä-vu nicht haben), und während ich mit dem Kopf und der rechten Schulter auf den kochenden Asphalt knallte, sah ich, wie das Auto mit niederländischem Kennzeichen gerade noch meinem Fahrrad auswich, das ein Stückchen weiter weg aufprallte, und sich aus dem Staub machte.« Die fliegende Vereinigung von Analytiker und Analysand überlebte den Sturz tatsächlich.
Aber die Hypothese, ein Dejä-vu-Erlebnis beruhe auf der Aktivierung von etwas, das bereits in unserem Geist vorhanden ist, hat eine noch viel abenteuerlichere Variante. In Fallende Eltern von A.F.Th. van der Heijden sind Albert Egberts und sein Busenfreund Thjum mitten in der Nacht in ein leerstehendes Hotel eingedrungen. Während sie auf dem Treppenabsatz stehen, haben sie gleichzeitig ein Dejä-vu-Erlebnis. Sie
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