Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
was wir wahrnehmen, uns fremd, neu, eher Traum als Wirklichkeit zu sein scheint; die Menschen, mit welchen wir uns unterhalten, auf uns den Eindruck machen, bloße Maschinen zu sein, auch die eigene Stimme uns fremd, wie diejenige eines anderen, in den Ohren klingt; und wir im allgemeinen das Gefühl haben, nicht selbst zu handeln und zu reden, sondern nur als müßige Zuschauer unser Handeln und Reden zu beobachten.« Die Ergebnisse der Umfragen stützen Heymans' Theorie, daß ein Dejä-vu-Erlebnis genau wie Depersonalisation auf einer Gedächtnisillusion einer ganz speziellen Art beruht. Spätere Analysen haben diese Schlußfolgerung in mehreren Punkten bestätigt.
Heymans nahm in seine Erhebungen Fragen auf, die sich nach dem Tagesrhythmus erkundigten (Tages- oder Abendmensch), nach Arbeitsrhythmus, emotionaler Stabilität, introvertierter oder extrovertierter Haltung, Zerstreutheit, der Qualität des visuellen
Gedächtnisses und der Begabung für Mathematik oder Sprachen. Eine zusätzliche Frage bezog sich auf Wortverfremdung, die Erfahrung, daß sich ein bekanntes Wort plötzlich als »sonderbar, fremdartig, wie ein Laut- oder Buchstabenkomplex ohne Sinn« erweist. Die Befragten sollten den Zeitpunkt des Auftretens notieren, aufzeichnen, ob sie sich in ihrer gewohnten Umgebung befanden, allein waren oder in Gesellschaft, ob sie sprachen oder zuhörten, sich in einem Zustand von Müdigkeit oder Spannung befanden, sich körperlich oder geistig sehr angestrengt, gerade gegessen oder mehr als sonst getrunken hatten und so weiter. Um sich eines Vergleichmaterials zu versichern, bat Heymans seine Studenten, die Fragen über Persönlichkeit oder intellektuelle Begabungen auch zu beantworten, wenn sich im bewußten Zeitraum keine Fälle von Dejä-vu-Erlebnissen oder Depersonalisation gezeigt hatten. Die Beschreibung, wie sich ein Dejä-vu-Erlebnis anfühlt, entnahm er David Copperfields Grübelei, als Micawber von Dora und Agnes zu sprechen anfing.
Heymans verteilte seine Fragebogen an zwei Studienjahrgänge seines Psychologiekollegs. Durch die Vermittlung seiner Professorenkollegen aus Heidelberg, Bonn und Berlin konnte auch eine deutsche Übersetzung der Umfrage aufgenommen werden. Schließlich bekam Heymans 130 ausgefüllte Fragebogen. Mit einer Art statistischem Zimmermannsauge identifizierte Heymans drei Eigenschaften, die bei >positiven< Befragten (entweder Dejä-vu-Erlebnis oder Depersonalisation) öfter angetroffen wurden als bei >negativen<. Diese Eigenschaften waren: größere Emotionalität, stärkere Stimmungswechsel und ein unregelmäßiger Arbeitsrhythmus. Dieselben Eigenschaften waren auch mit einem häufigeren Auftreten von Wortverfremdung anzutreffen. In übergroßer Mehrzahl hatten sich die Erfahrungen von Dejä-vu-Erlebnissen und Depersonalisation abends gezeigt, meistens in Gesellschaft anderer, während der Befragte selbst gerade nicht sprach, oft in einem Zustand von Müdigkeit, nach langweiligen Studien oder nach Alkohohlgenuß - kurzum, schrieb Heymans, in einem Zustand der erschlafften Konzentration und verminderter psychischer Energie.
Heymans bemerkte, daß Dejä-vu-Erlebnisse bei denselben Befragten auftreten, die auch Depersonalisation und Wortverfremdung erfahren. Daß diese drei Erscheinungen außerdem durch dieselben Umstände befördert werden, weist auf einen wechselseitigen Zusammenhang hin. Damit verlieren Hypothesen, die nur Dejä-vu-Erlebnisse erklären können, schon gleich an Wahrscheinlichkeit. Erklärungen im Sinne von teilweiser Übereinstimmung zwischen heutiger und früherer Erfahrung, >Dop-pelwahrnehmungen< oder die verlangsamte Verarbeitung von Empfindungen lassen jedenfalls ungeklärt, warum dieselbe Person dann auch eine größere Chance hat, Depersonalisation und Wortverfremdung zu erfahren: das Gefühl von Bekanntheit, das in Dejä-vu-Erlebnissen zu Unrecht anwesend ist, ist bei Wortverfremdung und Depersonalisation zu Unrecht abwesend.
Nach Heymans eigener Hypothese sind die anscheinend so unterschiedlichen Erscheinungen von Dejä-vu-Erlebnissen, Depersonalisation und Wortverfremdung Äußerungen ein und desselben Prozesses. Ausgangspunkt dieser Hypothese ist, daß das Gefühl der Bekanntheit einer Wahrnehmung durch die Assoziationen zwischen dem Wahrgenommenen und früheren Erfahrungen bestimmt wird. Diese Assoziationen geben die Datierung in die Vergangenheit: je verschwommener und geringer die Assoziationen, desto mehr Zeit scheint zwischen der heutigen und der
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