Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
fassen sich erschrocken bei der Schulter:
»Wart mal, wart mal ... hier zu stehen, am Fuße der einen und am Ende einer anderen Treppe ... und dann zwei Jungs, die einen
Schrank durchsuchen, Schubladen rausziehen ... das ist unglaublich vertraut.«
»Aber wann ... wann?«
»Ja, sprich weiter: ich weiß genau, aber auch ganz genau, was du jetzt gleich sagst.«
»Dann sag es mir ... sag es voraus!«
»>Dann sag es mir ...< Genau diese Worte. In dem Moment, wo du sie aussprichst, erkenne ich sie wieder. >Sag es voraus.< Wann hast du diese Worte schon mal ausgesprochen?«
Selbst eine unerwartete Handlung Thjums, er zieht die Tür zu und sperrt sie ab, kann dem Dejä-vu-Gefühl kein Ende bereiten. Erst als sie zusammen aufs Dach gepoltert sind, löst sich die Verzauberung wieder auf. Auf dem Dach philosophieren die beiden Freunde noch einen Moment weiter über die Frage, ob Dejä-vu-Erlebnisse der Beweis für eine ewige Wiederkehr aller Dinge sind. Thjum ist nicht dieser Ansicht und entfaltet dann folgende Hypothese: »Es heißt doch immer, im Augenblick unseres Todes zieht das Leben, das hinter uns liegt, >wie ein Film< vor unserem - na ja, also - geistigen Auge vorüber? Also, ich sehe Dejä-vu-Erlebnisse als eine fragmentarische Vorschau auf diesen Film. Als Kostproben.« Seiner Meinung nach müßte ein Dejä-vu-Erlebnis eigentlich >Pre-vu< heißen.
Thjums Erklärung paßt organisch in das Werk von Van der Heijden. Wo er die Zeit in Ein Tag, ein Leben beschleunigt und in anderen Teilen seiner Trilogie gerade verlangsamt, indem er die Zeitlinie seitwärts ausdehnt, das >Leben in der Breite<, präsentiert Thjums >Pre-vu< noch eine dritte Manipulation an der Zeit, die Umkehrung: die Vertrautheit der Zukunft entlehnt, das Wiedererkennen dessen, was noch vor uns liegt. Aber das >Pre-vu< ruft auch dieselbe Frage auf wie die Hypothese, daß sich das Leben endlos in identischer Form wiederholt: Ist das heutige Dejä-vu-Erlebnis auch in den zukünftigen >Film des Lebens< aufgenommen? Wenn dem nicht so ist, handelt es sich nicht um einen wahrheitsgetreuen Film (und worauf sollte das Wiedererkennen dann beruhen?), wenn es so ist, müßte dieses Dejä-vu-Erlebnis wiederum erklärt werden. Mit dem zusätzlichen Rätsel von Erinnerungen an die Zukunft lädt uns Thjum mit seinem >Pre-vu< in Wirklichkeit dazu ein, ein Mysterium gegen zwei einzutauschen.
Doppelbild
1817 verstarb Prinzessin Charlotte von England. Ihr unerwarteter Tod im Wochenbett stürzte das Land in tiefe Trauer, denn sie war außerordentlich beliebt. Der junge Arzt Arthur Ladbroke Wigan hatte Verbindungen zum Hof und wurde auf eigenes Ersuchen in den Stab von Lord Chamberlain aufgenommen, der damit beauftragt worden war, die Beisetzung in der Kapelle von St. George zu arrangieren. Nachdem er in der Nacht, die der Zeremonie vorausging, kaum Ruhe gehabt hatte, war Wigans Geist, wie er später schrieb, »in einen Zustand hysterischer Reizbarkeit« geraten. Dieser Zustand verschlechterte sich durch Kummer, Erschöpfung und Hunger, denn in Windsor war durch das allgemeine Durcheinander von morgens früh bis zum Zeitpunkt der Beisetzung genau um zwölf Uhr nachts keine Nahrung mehr aufzutreiben. Während der Feierlichkeiten stand Wigan vier Stunden ohne Unterbrechung neben dem Sarg. Er hatte das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht fallen zu können. Nachdem das Miserere von Mozart gespielt worden war, hörte die Musik auf, und es wurde totenstill. Langsam sank der Sarg ab, so langsam, daß Wigan die Bewegung nur wahrnahm, indem er den Rand des Sargs mit einem glänzenden Gegenstand verglich, der sich etwas weiter weg befand. Während er darauf starrte, rückte er in eine Art Betäubung, bis ihn der Witwer plötzlich aufschrecken ließ, der nun auch gesehen hatte, daß der Sarg langsam ins Grab sank, und vor Kummer einen Schrei ausstieß. Wigan: »Augenblicklich hatte ich nicht nur den Eindruck, sondern verspürte ich auch die Überzeugung, diese Szene schon einmal gesehen zu haben, bei einer früheren Gelegenheit, und hatte sogar die Worte gehört, die Sir George Naylor an mich richtete.«
Diese seltsame Erfahrung neben der Bahre von Prinzessin
Charlotte paßte nach Wigan auf äußerst befriedigende Weise in seine Theorie über die Funktion des Gehirns. Diese Theorie war während eines halben Jahrhunderts in seinen Gedanken von einer Vermutung zu einer starken Überzeugung herangereift. Erst 1844, in seinem sechzigsten Lebensjahr und kurz nach Aufgabe seiner
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