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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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selbst suchte die Erklärung in einer kurzfristigen Störung des Gehirns, eine Hypothese, die später noch zur Sprache kommen wird. Von Erklärungen wie Reinkarnation oder einer ewigen Wiederkehr hielt er nichts. In seiner Beschreibung, wie sich ein Dejä-vu-Erlebnis anfühlt, machte er eine beiläufige, aber triftige Bemerkung: »Es scheint, als würden wir uns an alles erinnern, als würde alles zum zweiten Mal unsere Aufmerksamkeit wecken. Niemals gehen wir davon aus, daß es das dritte Mal ist.«
    »Die Traumbilder unseres Schlafs«
    In Guy Mannering (1815), einem historischen Roman von Sir Walter Scott, kehrt die Hauptperson Bertram ins Schloß Ellango-wan zurück, in dem seine Vorfahren jahrhundertelang über die Gegend geherrscht hatten. Es ist zur Ruine verkommen. Er geht durch ein kleines Tor an der Rückseite hinein, überquert den Innenhof, irrt durch die leeren Räume, sieht überall abgenagte Knochen, erloschene Feuer, vertrocknete Brotstücke und andere Spuren, die Landstreicher hinterlassen haben, und geht schließlich durch das Haupttor wieder hinaus. Dort dreht er sich um, er will das baufällige Gebäude noch einmal in sich aufnehmen. Er sieht die riesigen Türme beiderseits des Tors, die in Stein gemeißelten drei Wolfsköpfe, das Familienwappen, die Dunkelheit des Torgewölbes. Obwohl sich Bertram nicht daran erinnert, jemals selbst auf Ellangowan gewohnt zu haben - in Wirklichkeit wurde er als Fünfjähriger von dort entführt -, ist es doch so, als käme ihm die gesamte Szene auf einmal bekannt vor. »Wie oft verspüren wir«, sagt er zu sich selbst, »sogar in Gesellschaft von Leuten, die wir nie gesehen haben, ein gewisses geheimnisvolles und unerklärliches Gefühl, welches uns zu sagen scheint, daß uns weder der Schauplatz noch die Sprechenden noch das Gesprochene ganz fremd sind; ja, es kommt sogar vor, daß wir das Gespräch, das noch nicht angefangen hat, wörtlich erraten können!« Er sinniert auch über eine mögliche Erklärung: »Sind es die Traumbilder unseres Schlafs, die dunkel im Gedächtnis liegen und durch die Betrachtung derartig wesentlicher Gegenstände, die einigermaßen mit den Gestalten unserer Vorstellung übereinstimmen, wieder zum Vorschein gerufen werden?«
    Diese Erklärung ist Teil einer ganzen Familie von Hypothesen. Gemeinsam ist ihnen, daß sie ein Dejä-vu-Erlebnis als Erinnerung auffassen, nicht an ein voriges Leben, sondern an etwas, das irgendwann einmal, in welcher Form auch immer, in unserem Geist vorhanden gewesen ist. Vielleicht enthält unser Geist, wie Walter Scott suggerierte, Erinnerungen an Träume, vielleicht gibt es eine Abteilung in unserem Gedächtnis, die im normalen Alltagsleben für das Bewußtsein unzugänglich ist, sich aber öffnet, wenn wir etwas erleben, das Ähnlichkeit mit etwas hat, was wir einmal geträumt haben. Wenn es wahr ist, daß Menschen jede Nacht träumen, argumentierte^ der englische Psychologe James Sully in Illusions (1881), dann müssen manche dieser Träume früher oder später >Wirklichkeit< werden. Sobald die Übereinstimmung groß genug ist, aktiviert unser heutiges Erleben Assoziationen mit dem, was wir geträumt haben, und es entsteht der Eindruck von Vertrautheit. Für einen Augenblick laufen Traum und Leben parallel. Ist es nicht ein romantischer Gedanke, fuhr Sully fort, daß in unseren Träumen oft Fragmente aus unserem wachen Leben auftauchen, aber daß umgekehrt auch manchmal unsere Träume tagsüber in unser Leben eindringen und dort etwas von ihrer bizarren Schönheit zeigen?
    Für Sully war ein Dejä-vu-Erlebnis das Negativ dessen, was Freud später >Tagesrest< nennen sollte. Und so, wie ein Tagesrest in die Geschichte des Traums eingewoben wird und darin nie mehr ist als ein schnell vorbeiziehendes Fragment, so kann der vielleicht schon jahrelang im Gedächtnis ruhende Traum einem Ereignis in unserem Alltag höchstens eine flüchtige Verdoppelung geben. Das >Wann< des Traums ist schon lange nicht mehr herauszufinden, daher fühlen sich Dejä-vu-Erlebnisse wie etwas an, das sich in einer unbestimmten Vergangenheit abspielte. Ein Dejä-vu-Erlebnis ist keine Schnittstelle mehr mit einem vorigen Leben, eher ein kurzer Moment der Parallelität mit einer vagen Spur im Gedächtnis.
    Für viele Psychologen, auch unter Sullys Zeitgenossen, war selbst die Hypothese von latenten Erinnerungen an Träume noch zu pompös. Warum sollte man nicht einfach annehmen, daß Dejä-vu-Erlebnisse entstehen, wenn es eine

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