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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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erinnerten Erfahrung verstrichen zu sein. Durch eine zeitweilige Abnahme der psychischen Energie und einer verminderten Konzentration können die Assoziationen, die unter normalen Umständen das Gefühl von Bekanntheit angeben, fehlen oder abgeschwächt sein. Wortverfremdung beruht dieser Hypothese zufolge auf dem Fehlen assoziativer Verbindungen zwischen dem Wort und dem semantischen Gedächtnis, so daß das Wort nur noch als Klang erfahren wird. Depersonalisation ist die Folge des völligen Fehlens von Assoziationen, so daß nicht nur die Worte, sondern alle Aspekte der Situation ihre Bekanntheit verlieren. Ein Dejä-vu-Erlebnis schließlich entsteht, wenn die Assoziationen nicht völlig fehlen, aber schwach und in geringer Anzahl vorhanden sind. Für das Bewußtsein entsteht dann die Illusion, daß die heutige Erfahrung eine Erinnerung aus längst verflossenen Zeiten ist.
    Heymans hat den Zusammenhang mit psychischer Energie aufgrund persönlicher Erfahrungen noch präzisiert. Auch wenn das Niveau der Konzentration normal oder sogar hoch ist, aber die Menge an psychischer Energie, die der Verarbeitung heutiger Wahrnehmung zur Verfügung steht, gering ist, kann es zu Dejä-vu-Erlebnissen kommen. Jemand soll eine Tischrede halten und wird kurz vorher noch in ein Gespräch verwickelt. Da der größte Teil der psychischen Energie auf die Rede gerichtet ist, wird die heutige Erfahrung nur schwache Assoziationen empfangen. Ein Hochschulkollege berichtete Heymans, er habe manchmal ein Dejä-vu-Erlebnis, wenn er im Begriff sei, einen Raum zu betreten, der voller Menschen ist: den Türknauf in der Hand und plötzlich das Gefühl, hier schon einmal genau so gestanden zu haben. Auch gespannte Aufmerksamkeit, die auf Dinge außerhalb der aktuellen Erfahrung gerichtet ist, kann offensichtlich Dejä-vu-Erleb-nisse begünstigen.
    Heymans Theorie setzt Wortverfremdung, Dejä-vu-Erlebnis und Depersonalisation auf eine gestaffelte Tabelle. In der leichtesten Form ist nur die Verbindung zwischen dem Wort und der Bedeutung weg, und das Wort fängt auf einmal an, als losgelöster, seltsamer Klang in unserem Kopf zu schwingen. Bei Depersonalisation sind alle Assoziationen mit dem Bekannten verschwunden, so daß alles fremd und neu scheint. Ein Dejä-vu-Erlebnis schwebt mittendrin, bekannt und neu zugleich. Was von den dreien auftre-ten wird, hängt von dem Maß ab, in dem unsere psychische Energie angegriffen ist. Aus dieser Theorie, argumentierte Heymans, sind zwei Vorhersagen abzuleiten. Die erste: Wenn Depersonalisation ein extremer Fall desselben Prozesses ist, der Dejä-vu-Erleb-nisse verursacht, müßten Dejä-vu-Erlebnisse öfter Vorkommen als Depersonalisation. Tatsächlich bestätigte sich das bei den Umfragen. Die zweite Vorhersage bezog sich auf das psychologische Profil von Menschen, die derartige Erfahrungen haben. Wenn Depersonalisation die extremste Variante ist, wird dieses Profil bei
    Befragten, die über Depersonalisation berichten, in einer ausgeprägteren Form vorhanden sein müssen als bei Befragten, die nur über Dejä-vu-Erlebnisse verfügen. Diese zweite Vorhersage sah Heymans durch die Umfrage von 1904 noch nicht unterstützt, wohl aber durch die von 1906. Befragte, die beides, Depersonalisation und Dejä-vu-Erlebnisse, aus eigener Erfahrung kannten, unterschieden sich wirklich von Befragten, die nur Dejä-vu-Erlebnisse kannten.
    Warum sollte uns Forschung, die schon fast ein Jahrhundert alt ist, heute noch interessieren? Die beiden Umfragen Heymans waren auch nach aktuellen Maßstäben ein elegantes Stück Arbeit. Es ist bis zum heutigen Tag die einzige Analyse, die vorausschauend durchgeführt wurde: die Umstände brauchten nicht aus einer fernen Erinnerung heraus beschrieben werden. Heymans' Vorhersagen eigneten sich zur Kontrolle. Seine Erklärung war sicherlich auch weniger spekulativ als viele der Hypothesen, die über Dejä-vu-Erlebnisse zirkulieren: keine latenten Erinnerungen an vorige Leben, keine ewige Wiederkehr, Seelenleben von früher, vor Jahrhunderten. Diese Verdienste brachten den niederländischen Psychiater Herman Sno und mich selbst dazu, Heymans' Material erneut zu analysieren. Es gibt nun statistische Instrumente, um aus denselben Daten mehr Informationen herauszufiltern. Über die exakten Ergebnisse dieser neuen Analyse wurde an anderer Stelle berichtet; hier belassen wir es bei den wichtigsten Schlußfolgerungen. Bei der Wiederholung der Kontrolle wurden bei allen Fragen, ausgenommen die

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