Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
Vom Netzwerk:
unserem Bewußtsein integrieren. Unter normalen Umständen schließen die beiden Phasen -Anjel nannte sie >Perzeption< und >Apperzeption< - so genau aneinander an, daß wir nicht darüber nachdenken, daß es wirklich zwei Schritte sind. Aber wenn genau zwischen diesen beiden Schritten eine Verzögerung auftritt, sind die sinnlichen Empfindungen bereits in dem Moment ein bißchen verschwommen, in dem sie zu einer Wahrnehmung verarbeitet werden sollen. Die Folge ist, daß in unserem Bewußtsein die Illusion entsteht, daß sich das, was wir jetzt sehen, genau so in einer weit zurückliegenden Vergangenheit abgespielt hat.
    Auch diese Hypothese vom Doppelbild gibt es in verschiedenen Varianten. Frederic Myers, der englische Pionier der parapsychologischen Forschung, ging 1875 davon aus, daß der menschliche Geist neben dem normalen bewußten Selbst auch ein >subliminal self< kennt, einen unbewußten Teil, der für Reize empfänglich ist, die zu kurz oder zu schwach sind, um die Wahrnehmungsschwelle zu überschreiten, und daher vom bewußten Selbst nicht bemerkt werden. Myers verglich die unterschwellige Wahrnehmung mit einer Kamera: sie hat nicht nur eine größere Empfindlichkeit, sondern verläuft auch schneller. Dadurch kann schon etwas in unserem Geist angekommen sein, das wir erst einen Bruchteil später bemerken. Dies verursacht eine Verwirrung in der Zeit: das bewußte Selbst schaut durch die Augen, das unterschwellige Selbst durch die Kamera, und so entsteht die Illusion, zugleich etwas aus dem Heute und der Vergangenheit zu sehen. Myers nannte diese Erfahrung >Promnäsie<, Vorerinnerung.
    All diese Hypothesen lassen ein Dejä-vu-Erlebnis aus dem Vergleich zweier Bilder entstehen, das eine scharf, das andere so verschwommen, daß es für ferne Erinnerung gehalten wird. Diese Bilder sind nicht nur visuell, sie bilden die Summe aller sinnlichen Eindrücke in diesem Moment, auch die Gerüche, Geräusche, die Kälte oder Hitze, den Hunger. Daß sich ein Dejä-vu-Erlebnis wie eine exakte Wiederholung anfühlt, ist dieser Erklärung zufolge genau das, was man erwarten würde: in Wirklichkeit verstreicht kaum Zeit zwischen den beiden Bildern. Auch die >Innenseite< dieses Gefühls der absoluten Übereinstimmung - man ist auch in genau derselben Stimmung, man denkt dasselbe, man fühlt dasselbe - würde zu diesem geringen Zeitunterschied passen. Aber man kann auch einen Einspruch gegen die Hypothese des Doppelbildes einlegen, der introspektiven Erfahrungen entnommen ist, die jeder kennt. Im alltäglichen Leben geschieht es sehr oft, daß etwas erst in zweiter Instanz zu einem durchdringt. Man ist am Lesen, jemand fragt etwas, und während man aufschaut - »Was hast du gesagt?« - >hört< man sozusagen die Frage und antwortet. Oder man läßt den Blick gedankenlos über ein volles Straßencafe schweifen und realisiert erst eine Sekunde später, daß man einen Bekannten gesehen hat. In Fällen wie diesem, die heute oft >dou-ble take< heißen, gibt es eine verlangsamte Verarbeitung von etwas, das als sinnliches Bild bereits vorhanden war. Dennoch geschieht nichts, was einem Dejä-vu-Erlebnis ähnelt, kein Gefühl der Wiederholung, keine Ansiedlung in einer vagen Vergangenheit, kein Gefühl, jetzt schon zu wissen, was im nächsten Moment geschehen wird.
    Dejä-vu-Erlebnisse und Depersonalisation
    Egal, ob sie nun aus der Belletristik, der Neurologie, der Psychiatrie oder der Psychoanalyse stammen - die bislang besprochenen Erklärungen haben gemein, daß sie nicht aus einem größeren Bestand von Fällen abgeleitet wurden. Sie wurden von Autoren vorgestellt, die schlichtweg nicht über die Daten verfügten, um Dejä-vu-Erlebnisse in Zusammenhang mit vergleichbaren psychischen Erscheinungen zu bringen, mit Unterschieden bei Menschen oder mit Variationen der Umstände, unter denen sie auftreten. Warum hat der eine sehr wohl und der andere keine Dejä-vu-Erlebnisse? Gibt es Umstände, die Dejä-vu-Erlebnisse begünstigen: Reisen vielleicht, Müdigkeit, Alkohol, Schlafmangel? Die Erforschung dieser Art von Fragen begann erst, als der niederländische Philosoph und Psychologe Gerard Heymans 1904 und 1906 zwei Umfragen nach dem möglichen Zusammenhang zwischen Dejä-vu-Erlebnissen und einer ebenso flüchtigen psychischen Erfahrung, der >Depersonalisation<, machte.
    Depersonalisation ist in den Worten Heymans als »ein momentan sich einstellender, meistens auch schnell vorübergehender Zustand zu verstehen, während dessen alles,

Weitere Kostenlose Bücher