Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
elektrische Spannung wurde gerade so lange gesteigert, bis ein epileptischer Anfall ausgelöst wurde und der Herd lokalisiert war. Während der gesamten Zeit wurde der Patient über seine Empfindungen befragt, so daß anschließend die subjektiven Erlebnisse sozusagen auf die EEG-Spuren aus den verschiedenen Hirnbereichen projiziert werden konnten.
Der elektrische Reiz rief das gesamte Spektrum an Erfahrungen auf, die Hughlings Jackson unter >Traumzustand< eingeordnet hatte. Patienten sahen mit halluzinierender Klarheit Bilder bekannter Szenen, wie eine frühere Nachbarschaft oder Freunde aus ihrer Vergangenheit, ihre aktuellen Erlebnisse fühlten sich wie etwas an, das sich in einem Traum abspielt, manchmal schienen sehr alte Erinnerungen an häusliche Szenen zurückzukommen, etwa wie die Mutter in der Küche werkelte. Für andere waren die Bilder von Personen so lebensecht, daß sie anfingen, sich mit ihnen zu unterhalten. Manchmal bekamen die aktuellen Umstände - zurückgelehnt mit einem Wirrwarr von Elektroden, die aus dem Schädel ragten - ein so vertrautes Gefühl, daß die Patienten glaubten, diese Untersuchung schon einmal mitgemacht zu haben. Umgekehrt konnte ihnen die Situation auch vollkommen fremd Vorkommen, als wären sie in einem Traum in eine mißliche Lage geraten. Manchmal löste die Reizung mit ein und derselben Elektrode einmal ein Dejä-vu-Erlebnis und ein anderes Mal ein Gefühl von Fremdheit aus. Bei fast jedem gingen die Gefühle während der Reizung mit einer vagen, unbestimmten Angst einher, auch wenn die Erinnerung oder die Halluzination gerade vertraut schien. Der >Traumzustand< zeigte sich immer in der Anfangsphase eines Anfalls, schon während der ersten zehn Sekunden.
Als man die EEG-Messungen neben die Berichte der subjektiven Erlebnisse der Patienten legte, zeigte sich, daß der >Traumzu-stand< mit der Reizung zweier Hirnstrukturen einherging, dem Mandelkern (Amygdala) und dem Hippocampus. Beide gehören zum limbischen System, einem evolutionär alten Teil des Gehirns. Er liegt tief im Gehirn, dicht am Hirnstamm, und hat direkte Verbindungen mit dem Teil des Gehirns, der für die Aufmerksamkeit und die Regulierung von Gefühlen zuständig ist. Reizung des Mandelkerns kann, wie frühere Untersuchungen ergeben haben, Gefühle der Angst oder im Gegenteil der Entspannung verursachen, je nach Situation, in der sich der Patient befindet. Der Hippocampus ist für das Gedächtnis wesentlich. Beschädigung des Hippocampus, wie durch das Korsakow-Syndrom oder durch eine Verletzung, verursacht ernsthaften Gedächtnisverlust. Doppelseitige Entfernung des Hippocampus bedeutet unwiderruflich das Ende der Fähigkeit, Erinnerungen zu speichern. Mandelkern und
Hippocampus haben beide ein dichtes Netzwerk von Verbindungen mit den Teilen des Schläfenlappens, in denen die Informationen, die durch die Sinnesorgane hereinkommt, integriert werden.
Der derzeitig besten Vermutung zufolge, entstehen epileptische Dejä-vu-Erlebnisse in einem neuronalen Kreis, in dem der Mandelkern, der Hippocampus und Teile des Schläfenlappens gleichzeitig aktiv sind. Der Schläfenlappen verarbeitet die aktuelle Erfahrung und leitet sie weiter an den Hippocampus. Aber die gleichzeitige Aktivierung des Hippocampus - sei es durch Reizung mit einer Elektrode oder durch einen epileptischen Anfall -gibt dieser neu hereinkommenden Information die Interpretation einer Erinnerung. Das >Wann< dieser Erinnerung fehlt - es ist auch keine Erinnerung -, aber alles, was in diesem Moment an Erfahrung verarbeitet wird, bekommt das Gefühl der Vertrautheit, das nun einmal mit dem Hippocampus verbunden ist. Die Aktivierung im Mandelkern sorgt schließlich für das Gefühl, daß Unheil droht. Eine etwas andere Verteilung der Aktivierungen über Schläfenlappen, Hippocampus und Mandelkern kann der aktuellen Erfahrung gerade alle Assoziationen mit einer bekannten Situation vorenthalten, auch wenn das die Situation ist, die erst ein paar Sekunden her ist, so daß für den Patienten alles, was er von nun an erlebt, auf einmal vollkommen fremd scheint. Wie weit diese beiden Erfahrungen - das Neue, das sich vertraut anfühlt, und das Bekannte, das fremd scheint - im persönlichen Erleben auch auseinander liegen, neurologisch grenzen sie so dicht aneinander, daß selbst wiederholte Reizung derselben Stelle einmal die eine, dann wieder die andere Erfahrung aufrufen kann.
Eine skeptische Frage, die so allmählich gestellt werden darf, ist, was
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