Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
klar, daß er alles erkennt, den Innenhof, die Zimmer, die Gänge und sogar das Personal: »Letztes Jahr um diese Zeit war ich auch schon hier.« Auch sein inneres Erleben, seine >vie interieu-re<, ist eine identische Wiederholung. Die erste Begegnung mit Arnaud ist ein bizarres Theaterstück. Louis stellt sich Arnaud in aller Form vor, sie tauschen ein paar Höflichkeiten aus, aber plötzlich verändert sich sein Gesichtsausdruck: »Jetzt erkenne ich Sie, Doktor! Das waren Sie, der mich letztes Jahr hier empfangen hat, zur selben Zeit, im selben Raum. Sie haben mir dieselben Fragen gestellt, und ich habe dasselbe geantwortet. Das ist mir jetzt vollkommen klar. Sie tun zwar so, als seien Sie vollkommen überrascht, aber jetzt können Sie damit aufhören.« Arnaud streitet es ab, aber Louis ist nicht von seiner Überzeugung abzubringen. Sechs Monate später erklärt Louis, er habe noch keine zwei Minuten erlebt, die von seinem früheren Aufenthalt abwichen. Er kennt jedes Ereignis in der Einrichtung, aber auch im öffentlichen Leben, den Tod von Graf de Lesseps, die Expedition nach Madagaskar, den Tod Pasteurs, die Zugkatastrophe im Bahnhof Montpar-nasse. In einem Brief an seinen Bruder schreibt er, er werde einer Freundin der Familie keine Beileidsbezeugung schicken, ihrTöch-terchen könne unmöglich ein zweites Mal gestorben sein.
Louis' Fall ist nicht der einzige seiner Art. Der deutsche Neurologe Pick hatte zwanzig Jahre zuvor schon einen ähnlichen beschrieben: ein junger Mann mit Verfolgungswahn, der, nachdem er in eine Anstalt aufgenommen worden war, in seinem Tagebuch notierte, er sei schon vom zweiten Tag an davon überzeugt gewesen, dies alles schon einmal erlebt zu haben, als führe er, wie er es nannte, ein doppeltes Lebern. Der Schweizer Psychiater Forel berichtete über einen jungen Kaufmann mit Verfolgungswahn, der kurz nach seiner Aufnahme erklärte, er sei im Jahr zuvor bereits dort gewesen. Erst vor kurzem, 1992, beschrieben Sno und einige Kollegen den Fall einer Neunzehnjährigen, die mit der Diagnose Schizophrenie in die Psychiatrie des Amsterdam Medisch Centrum aufgenommen worden war. Auch sie litt an Wahnvorstellungen, sie war davon überzeugt, sie sei die Reinkarnation von Marilyn Monroe: all deren Filme und Fotos kamen ihr bekannt vor. Sie erzählte ihrem Psychiater, sie erkenne ihre Mitpatienten, den Saal und das Personal, sie müsse schon einmal dortgewesen sein.
Arnauds Offizier, die jungen Männer von Pick und Forel und das schizophrene Mädchen auf Snos Abteilung hatten neben ihrem permanenten Dejä-vu-Erlebnis - oder eigentlich als Folge dessen - noch ein seltsames Detail in ihrem Verhalten gemein. Der Offizier blieb bis 1894 in der Klinik, aber er datierte seine Briefe auf 1895. Der Kaufmann, der unter Forels Obhut stand, schrieb konsequent 1880 statt 1879. Das schizophrene Mädchen von Sno gab als Erklärung für ihre >Erinnerungen< an, sie lebe ein Jahr später, als der Kalender anzeige. Als der Offizier auf das eine Jahr Unterschied hingewiesen wurde, war seine Antwort vollkommen logisch: Wenn auf allen Zeitungen, die er im »vorigen Jahr« gelesen hatte, 1894 stand, mußte es jetzt 1895 sein. Seine Mitpatienten aus den Jahren 1879 und 1992 argumentierten genauso. Die Verschiebung von einem Jahr - und nicht zwei oder drei - ist ein bewegendes Beispiel der heiklen Balance zwischen >method< und >madness< in einer psychiatrischen Störung. Wenn das Dejä-vu-Erlebnis so lange und ununterbrochen anhält, daß sich der Patient nicht mehr an dessen Beginn erinnert, kann er seine Erfahrungen auch nicht mehr an der Wirklichkeit überprüfen. Für den Offizier muß das intensive Wiedererkennen von Zeit und Ort - dieser Krankensaal in Vanves, dieser Sommer - nur durch einen früheren Aufenthalt in Vanves zu erklären gewesen sein, und zwar in dem Sommer, der am nächsten lag, dem vom letzten Jahr. Folgerichtigkeit ist das letzte, was ein gestörter Geist preisgeben will.
Dejä-vu-Erlebnisse, die in die Symptome von Schizophrenie aufgenommen sind, scheinen aus einer Orientierungsstörung in der Zeit hervorzugehen. Bei einem >normalen< Dejä-vu-Erlebnis gibt es auch einen kurzen Moment der Desorientierung, aber der wird unmittelbar korrigiert. Das Gefühl >Dies habe ich alles schon einmal erlebt« verändert sich blitzschnell in >Ich erlebe nun etwas, das sich so anfühlt, als habe ich es schon einmal erlebt.< Das Bewußtsein, eine Illusion zu erfahren, stellt den Kontakt mit der Realität
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