Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
wieder her. Es gibt noch einen dritten Typ von Dejä-vu-Erlebnissen. Diese sind nicht so hartnäckig wie die schizophrene Variante, aber sicherlich weniger flüchtig als die Dejä-vu-Erlebnisse, die die meisten Menschen aus eigener Erfahrung kennen. Sie stehen im Zusammenhang mit Epilepsie und wurden bereits im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts von dem englischen Neurologen John Hughlings Jackson ausführlich beschrieben und untersucht.
Manchmal kündigt sich ein epileptischer Anfall durch eine >Aura< an, der Patient hört seltsame Geräusche oder hat einen seltsamen Geschmack im Mund, er kann das Gefühl haben, plötzlich hochgehoben zu werden, oder sieht vertraute Formen bis ins Bizarre ausgedehnt. Bei einer speziellen Form von Epilepsie, der temporalen Epilepsie, tritt während der Aura manchmal ein Erlebnis auf, das Hughlings Jackson wie seine Patienten einen >Traumzustand< nannte. Kurz vor dem Anfall scheint das übliche Zeitbewußtsein zu verschwinden, der Patient hat das Gefühl, außerhalb der Wirklichkeit zu stehen, manchmal erfährt er lebendige Efalluzinationen, oder alles, was er empfindet, wird von einem intensiven Gefühl der Vertrautheit begleitet. Letzteres nannte Hughlings Jackson >reminiscence<, aus seiner Beschreibung wird deutlich, daß er damit das heutige Dejä-vu-Erlebnis meinte. Aufgrund von Autopsien - und viel mehr Möglichkeiten zur Lokalisierung gab es zu seiner Zeit nicht - vermutete Hughlings Jackson, daß sich der >Traumzustand< aus einer Beschädigung oder Störung im Schläfen- oder Temporallappen ergab.
Erst ein halbes Jahrhundert später stand ein Verfahren zur Verfügung, um derartige Phänomene experimentell aufzurufen. Der kanadische Neurologe Wilder Penfield behandelte in den dreißiger Jahren ernste Fälle von Epilepsie mit einer neuen chirurgischen Technik. Er öffnete unter örtlicher Betäubung den Schädel, machte einen Schnitt in die Hirnhaut und legte so die Oberfläche des Gehirns frei. Das Gehirn selbst ist gefühllos. Während der Patient bei Bewußtsein blieb, tastete Penfield mit einer Elektrode systematisch den Kortex ab, in der Hoffnung, den Bereich zu finden, der bei Reizung den Anfall verursachte. Auf diese Weise konnte er den Epilepsieherd finden und entfernen. Die Reaktionen und Empfindungen der Patienten variierten je nach Gebiet, das berührt wurde. Manche Reaktionen waren vorhersehbar, wie etwa ein rechter Arm, der sich nach Reizung des linken motorischen Projektionsbereichs hob, oder Lichtblitze nach Reizung der Sehrinde. Aber dieselben schwachen Elektroschocks verursachten in bestimmten Bereichen des Temporallappens Wahrnehmungen, die mit Zeit und Gedächtnis zu tun hatten. Manche Patienten hatten plötzlich das Gefühl, so schon einmal gesessen zu haben, oder fanden die Situation gerade von einem Moment auf den anderen vollkommen fremd (>jamais vu<). Andere empfanden eine vage Unruhe, als drohe Unheil, oder wurden, ebenso unerklärlich, von einem Glücksgefühl überflutet. Reizung von Nachbarbereichen des Temporallappens verursachte Halluzinationen, traumartige Bilder und >flash-backs<, häufig von alltäglichen Ereignissen und Situationen. Es scheint also, als habe Penfield mit seiner Elektrode den >Traumzustand< aufrufen können, den Hughlings Jackson bei seinen Patienten mit temporärer Epilepsie bemerkt hatte.
1994 erschien in derselben Zeitschrift Brain, in der Hughlings Jackson ein Jahrhundert zuvor so vieles über seine Untersuchung veröffentlicht hatte, der Bericht einer langen Reihe von EEG-Messungen bei Epilepsiepatienten, die während ihrer Aura einen >Traumzustand< empfanden. Die Experimente wurden im Pariser Krankenhaus Sainte-Anne durchgeführt. Die Ergebnisse bestimmten viel genauer, als es Hughlings Jackson oder Penfield möglich gewesen war, die neurologischen Koordinaten der Hirnbereiche, die vom >Traumzustand< betroffen sind. Das Ziel der Untersuchung war übrigens rein klinisch, die Befunde über Dejä-vu-Erlebnisse waren eine Art Zugabe. Bei den Untersuchten war die Epilepsie nicht mit Medikamenten behandelbar. Die Messungen dienten primär dazu, festzustellen, wo sich der Anfallsherd befand, um diesen später operativ zu entfernen. Dazu wurden unter leichter Anästhesie etwa zehn Elektroden ins Gehirn eingeführt, die rund fünf Stunden dort verblieben. Nachdem die Betäubung wieder abgeklungen war, leiteten die Forscher für eine Millisekunde einen schwachen Stromstoß durch die verschiedenen Elektroden. Die
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