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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Gabriel
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kann sowohl als 2 + 2 als auch als 3 + 1 notiert werden (und auf unendlich viele andere Weisen).
    Frege nennt nun »2 + 2« und »3 + 1« »Arten des Gegebenseins« und setzt dies mit dem Ausdruck »Sinn« gleich. 25 Der Sinn von Ausdrücken, die in einer Identitätsaussage gleichgesetzt werden, ist verschieden, dasjenige, worauf sie sich beziehen, ist das Identische (also Schwarzenegger beziehungsweise die Zahl 4). In einer wahren, informativen und widerspruchsfreien Identitätsaussage lernen wir also, dass dasselbe Ding (dieselbe Person, dieselbe Tatsache) auf verschiedene Arten präsentiert werden kann. Statt von »Gegebenheit« zu sprechen, ziehe ich das Wort »Erscheinung« vor. Der S inn ist dann die Art, wie ein Gegenstand erscheint.
    Sinnfelder sind Bereiche, in denen etwas, bestimmte Gegenstände, auf eine bestimmte Art erscheinen. Bei Gegenstandsbereichen und erst recht bei Mengen abstrahiert man aber genau davon. Dabei können zwei Sinnfelder sich auf dieselben Gegenstände beziehen, die in den beiden Sinnfeldern nur verschieden erscheinen. Hier ist ein ausführliches Beispiel angebracht.
    Ziehen wir einen schon vertrauten Gegenstand heran: meine linke Hand (Sie können auch Ihre eigene linke Hand für das folgende Experiment verwenden. Philosophische Experimente sind extrem kostengünstig und leicht ohne Labor durchzuführen). Meine linke Hand ist eine Hand. Sie hat fünf Finger, ist derzeit alles andere als braun gebrannt, sie hat Fingerkuppen und Furchen auf der Handinnenfläche. Dasjenige, was mir als linke Hand erscheint, ist aber auch eine Ansammlung von Elementarteilchen, sagen wir ein bestimmtes Gewirr von Atomen, die ihrerseits ein Gewirr noch kleinerer Teilchen sind. Sie könnte mir aber auch als Kunstwerk erscheinen oder als Werkzeug, mit dem ich das Mittagessen in meinen Mund befördere. Ein anderes Beispiel, das von Frege stammt: In einem Wald kann es etwa eine Baumgruppe geben. Oder einfach fünf einzelne Bäume, die zum Wald gehören. Je nach Sinnfeld ist dasselbe also eine Hand, ein Atomgewirr, ein Kunstwerk oder ein Werkzeug. Und die fünf Bäume sind eine Baumgruppe oder einzelne Bäume (oder natürlich wiederum: ein bestimmtes Atomgewirr).
    Gustav von Aschenbach ist sowohl eine Figur von Thomas Mann als auch ein Pädophiler, aber er ist kein Atomgewirr, weil es im Universum niemals ein Atomgewirr gab, das identisch mit der von Mann erfundenen Person namens »Gustav von Aschenbach« war. Gustav von Aschenbach ist je nach Sinnfeld in Venedig gewesen – oder auch nicht. Es kommt darauf an, ob man über den Roman oder die Stadtgeschichte spricht.
    Es gibt keine Gegenstände oder Tatsachen außerhalb von Sinnfeldern. Alles, was existiert, erscheint in einem Sinnfeld (genau genommen erscheint es sogar in unendlich vielen). »Existenz« bedeutet, dass etwas in einem Sinnfeld erscheint. Unendlich vieles erscheint in einem Sinnfeld, ohne dass irgendwann jemand dies bemerkt hätte. Dabei spielt es in ontologischer Hinsicht eine untergeordnete Rolle, ob wir Menschen davon erfahren oder eben nicht. Die Dinge und Gegenstände erscheinen nicht nur, weil sie uns erscheinen, sie existieren nicht nur, weil uns dies aufgefallen ist. Das meiste erscheint einfach, ohne dass wir Notiz davon nehmen. Dies darf man nie vergessen, wenn man nicht zum Baccalaureus aus Faust II werden will, der mit seinem Konstruktivismus auf Mephistopheles, den Teufel, hereingefallen ist. Goethe, dem der von Kant ausgehende Konstruktivismus zeit seines Lebens in allen seinen Spielarten ein Ärgernis war, lässt ihn deklamieren:
    Die Welt, sie war nicht, eh’ ich sie erschuf;
    Die Sonne führt ich aus dem Meer herauf;
    Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf;
    Da schmückte sich der Tag auf meinen Wegen,
    Die Erde grünte, blühte mir entgegen.
    Auf meinen Wink, in jener ersten Nacht,
    Entfaltete sich aller Sterne Pracht.
    Wer, außer mir, entband euch aller Schranken
    Philisterhaft einklemmender Gedanken?
    Ich aber frei, wie mir’s im Geiste spricht,
    Verfolge froh mein innerliches Licht,
    Und wandle rasch, im eigensten Entzücken,
    Das Helle vor mir, Finsternis im Rücken. 26
    Unser Planet ist nicht das Zentrum des kosmologischen und ontologischen Geschehens, sondern eine letztlich infinitesimal kleine Ecke, die wir uns einigermaßen akzeptabel eingerichtet haben und die wir im Moment zerstören, weil wir unsere Wichtigkeit im Universum überschätzen. Indem wir glauben, dass es die Welt ohne uns nicht gäbe, denken wir,

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