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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Gabriel
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schon passiert ist und Zeit nur eine Art Illusion sich »bewegender« Wesen ist. 29 Leben wir überhaupt noch ein sinnvolles Leben, oder zerstört die unendliche Verschachtelung der Welt in Sinnfeldern nicht allen Sinn, alle Wichtigkeit?
    Nicht im Geringsten, eher im Gegenteil: Vor lauter Sinn könnten wir die Orientierung verlieren. Dies meinte vielleicht der berühmte griechische Protophilosoph Thales von Milet, von dem überliefert wird, er habe gesagt: »Alles ist voll von Göttern.« Der große Nachkriegsphilosoph Hans Blumenberg hat darin in einigen sehr schönen und anregenden Büchern eine Klage ausgemacht. 30 Weil es für Thales einfach viel zu viele Götter gegeben habe, habe er sich die Sache einfacher machen wollen und einen modernen wissenschaftlichen Gedanken erfunden, den Gedanken, dass letztlich alles, was es gibt, aus einem einzigen Stoff besteht: »Alles ist Wasser« (als Einwohner einer Hafenstadt nahm er das Wasser ziemlich wichtig). Wir wissen zwar heute, dass nicht alles Wasser ist, meinen aber noch immer, dass es vielleicht eine einzige Weltsubstanz gibt, aus der alles besteht.
    Thales’ Satz »Alles ist Wasser« ist jedoch gleich doppelt falsch. Es ist sicher falsch, dass alles Wasser ist (manches ist Feuer und manches Gestein). Es ist aber auch falsch, dass es irgendetwas gibt, das alles ist. »Alles« bedeutet nichts. Der Ausdruck »alles« bezieht sich auf nichts Bestimmtes. Man kann zwar sagen: »Alle Löwen mögen gern Gazellen« oder »Alle Flüsse führen Wasser«, aber man kann nicht sagen: »Alles ist X«. Denn sonst gäbe es ein allerallgemeinstes X, einen allerallgemeinsten Begriff, unter den alles fällt. Dieser allerallgemeinste Begriff wäre dann aber schon wieder die Welt, von der wir bereits wissen, dass es sie nicht gibt. Es gibt deswegen keine Theorie, die alles auf einmal beschreibt, weil es so etwas wie »alles auf einmal« nicht geben kann.
    Doch sagt die von mir vorgeschlagene fraktale Ontologie etwa nicht, dass alles gleich ist, dass alles kleine Weltkopien sind, die nur im Zusammenhang existieren und sich dadurch von der Welt unterscheiden? Dann hätte sie den gleichen Fehler wie Thales begangen und gesagt: »Alles ist Sinnfelder«, oder grammatisch angemessener: »Sinnfelder sind alles, was es gibt.«
    Stellen wir uns das etwas bildlicher vor: Wenn es nur Sinnfelder in jeweils anderen Sinnfeldern gibt, weil man kein Sinnfeld isolieren kann, ist »die Wirklichkeit« dann eine Art unendlich in sich verschachteltes, unendlich großes Fliegenauge? Befinden wir uns in irgendeinem solchen Segment und können nicht feststellen, in welchem, da alle Segmente ununterscheidbar voneinander sind? Eine solche Lage wäre wohl sprichwörtlich »zum Verrücktwerden«.
    Ich kann Sie allerdings beruhigen. Wir befinden uns nicht in dieser Lage, oder genauer: Meine Argumente legen zumindest nicht nahe, dass wir uns in dieser oder einer ähnlichen Lage befinden. Denn nur wenn sich die Sinnfelder in nichts voneinander unterschieden, gäbe es eine glatte Sinnfeldoberfläche – ein unendlich verschachteltes, unendlich großes Fliegenauge. Die Sinnfelder sind aber ziemlich verschieden: Eine Schifffahrt auf dem Amazonas unterscheidet sich grundlegend von einem Traum oder einer physikalischen Gleichung. Staatsbürgerschaft ist etwas ganz anderes als mittelalterliche Malerei.
    Was ein Sinnfeld zu einem Sinnfeld macht, ist eben nicht dadurch erschöpft, dass es ein Sinnfeld ist. Genau deswegen spreche ich von Sinnfeldern und nicht von Gegenstandsbereichen. Der Unterschied ist folgender: Ein Bereich ist tendenziell neutral gegenüber der Frage, was in ihm vorkommt. Nehmen wir ein Haus irgendwo in Brooklyn. Über dieses Haus weiß ich nur, dass es sieben Zimmer hat. Diese Zimmer sind Gegenstandsbereiche. An den Zimmern ändert sich nichts. Was auch immer man in ihnen findet, es bleiben Zimmer. Auch ein leeres Zimmer ist noch ein Zimmer. Im Unterschied dazu sind Sinnfelder nicht ohne die Ausrichtung oder Anordnung der Gegenstände zu verstehen, die in ihnen erscheinen. Es ist eher wie mit Magnetfeldern; man sieht diese ja auch nur dann, wenn man bestimmte Gegenstände ausstreut, die die Form des Feldes zeigen. Sinnfelder werden durch die Gegenstände bestimmt, die in ihnen erscheinen. Die Sinnfelder und ihre Gegenstände gehören zusammen. Die Gegenstände sind mit dem Sinn der Sinnfelder eng verbunden.
    Daran kann man erkennen, dass Identität oder Individualität wesentlich für unser Verständnis

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